Das Auge der Ueberwelt
alles, was von mir erwartet wurde«, erklärte der Deodand. »Laß mich gehen, wie wir es vereinbart haben.«
»Wie du willst«, sagte Cugel. Er nahm ihn das Leitseil ab und durchschnitt die Fesseln, und der Deodand hinkte fort. Cugel gab dem Anführer der Jäger ein Zeichen, und der sagte etwas zu seinen Männern. Sie hoben ihre Bogen und durchbohrten den Deodand mit Pfeilen.
Cugel nickte befriedigt. »Wer seid ihr? Und was ist mit Magnatz, der angeblich die Berge unsicher macht?«
Die Jäger lachten. »Bloß eine Legende. In ferner Vergangenheit gab es wirklich ein schreckliches Ungeheuer namens Magnatz, und in Gehorsam zur Tradition ernennen wir noch immer einen aus unserer Mitte zum Wachmann. Aber das ist alles, was es mit der Sache auf sich hat.«
»Seltsam«, sagte Cugel, »daß die Tradition so stark fortwirkt.«
Der Anführer der Jäger zuckte die Schultern. »Es wird bald dunkel sein; es ist Zeit, umzukehren. In Vull gibt es ein Gasthaus, wo du die Nacht verbringen kannst.«
Die Gruppe folgte dem Weg durch das Bergland. Als sie wanderten, erkundigte sich Cugel nach den Wegeverhältnissen weiter im Süden, aber die Jäger wußten nicht viel. »Das Dorf Vull liegt am Ufer des Sees, der wegen seiner Wirbel und Strudel nicht befahren werden kann. Nur wenige von uns sind bis zu den Bergen im Süden gekommen. Es heißt, daß sie kahl und wasserarm sind und schließlich in eine unwirtliche graue Wüste überleiten.«
Nach einstündigem Marsch erreichte die Gruppe Vull, ein Dorf von überraschendem Wohlstand. Die Häuser waren groß und solide aus Mauerwerk und behauenen Balken errichtet, die Straßen sauber angelegt und mit Abflußrinnen versehen; es gab einen öffentlichen Markt, einen Kornspeicher, mehrere Wirtshäuser und neben einer großen Zahl stattlicher Bauernhöfe einige ansehnliche Bürgerhäuser. Als die Gruppe der Jäger die Hauptstraße hinaufging, rief ihnen ein Mann zu: »Wichtige Nachricht! Der Wachmann ist gestorben!«
»Nicht möglich!« rief der Anführer der Gruppe. »Wer dient in der Zwischenzeit?«
»Lafel, der Sohn des Hetman wer sonst?«
»Ja, richtig«, bemerkte der Jäger, und sie gingen weiter.
»Ist der Posten eines Wachmanns mit so hohem Ansehen verbunden?« fragte Cugel.
Der Anführer zuckte mit den Schultern. »Es ist ein einträgliches und müheloses Amt. Wahrscheinlich wird man morgen einen Nachfolger wählen.« Er blieb stehen und winkte einem untersetzten, breitschultrigen Mann zu, der gerade aus einem Haus trat. Er trug einen pelzbesetzten braunen Mantel und einen schwarzen Hut. »Das ist Hylam Wiskode, der Hetman selbst. Ho, Wiskode! Wir haben einen Reisenden aus dem Norden getroffen!«
Hylam Wiskode kam heran und begrüßte Cugel mit freundschaftlichem Lächeln. »Willkommen in Vull! Fremde sind hier eine Seltenheit; du wirst dich nicht über mangelnde Gastfreundschaft beklagen müssen.«
»Ich danke euch«, sagte Cugel. »Ich hatte in den Bergen von Magnatz keine solche Liebenswürdigkeit erwartet. Diese Berge sind von allen gefürchtet.«
Der Hetman schmunzelte. »Mißverständnisse gibt es überall. Aber komm, hier ist unser bestes Gasthaus. Sobald du dich einquartiert hast, werden wir essen.«
Cugel wurde in ein bequem eingerichtetes Zimmer geführt, und bald danach traf er gesäubert und erfrischt in der Gaststube wieder mit Hylam Wiskode zusammen. Man setzte ihm ein ausgezeichnetes Abendessen vor, dazu eine Flasche Wein. Nach der Mahlzeit unternahm der Hetman mit Cugel einen Besichtigungsrundgang durch das Dorf, von dem man einen schönen Ausblick über den See genoß. Die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes schien auf den Beinen und ging spazieren oder stand in kleinen Gruppen auf den Straßen. Cugel erkundigte sich nach dem Grund dieser offensichtlichen Unruhe. »Hängt es mit dem Tod eures Wachmanns zusammen?«
»So ist es«, antwortete der Hetman. »Wir behandeln unsere überlieferten Traditionen mit allem gebührenden Respekt und Ernst, und die Wahl eines neuen Wachmanns ist eine Angelegenheit von großem öffentlichem Interesse. Aber hier kommen wir zum gemeindeeigenen Warenmagazin, wo der gemeinsame Reichtum gesammelt wird. Willst du einen Blick hineinwerfen?«
Cugel war sofort einverstanden, und der Hetman stieß die Tür auf. »Hier ist nicht nur Gold, sondern viel mehr! In diesem Kasten werden Juwelen verwahrt; jener dort enthält antike Münzen. Die Regale dort enthalten feine Seidenstoffe und bestickten Damast; auf der anderen Seite sind
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