Das Auge des Basilisken
beweglichen Einrichtungen zu ersetzen, die beschlagnahmt oder geplündert worden waren. Als Alexander das Theater sah, wurde bereits seit drei Wochen geprobt.
Er ging in den Zuschauerraum, wo ein schwacher, angenehmer Duft des zwanzigsten Jahrhunderts überdauerte. Auf der Bühne standen zwei Männer mittleren Alters, deren Haltung und Aussehen etwas Akademisches hatten, ein dritter, jüngerer Mann und ein Mädchen Mitte der Zwanzig, das ein Buch in der Hand hielt und den Erklärungen lauschte, die bald der eine und bald der andere der Männer machte. Alexander blickte angelegentlich umher und hielt ohne Ergebnis nach Theodor Markow Ausschau, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu. Sie war, was Nina seinen Typ genannt hätte, ließ man außer Betracht, daß ihr Gesichtsausdruck weniger schmollend oder mißgelaunt als vielmehr reserviert und wachsam war, was ihm nicht viel ausmachte; sie war auch ziemlich groß, etwas stupsnasig und dunkelhaarig. Er ging nach rechts zur Mitte des Zuschauerraumes und räusperte sich in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, doch blieb sein Bemühen einstweilen ohne Erfolg, und so ließ er sich auf einem Platz am Mittelgang nieder. Von den paar Dutzend anderen Leuten, die über den Raum verstreut saßen oder standen, schenkte ihm niemand Beachtung, ohne Zweifel, weil er Zivilkleidung trug. Die Beratung auf der Bühne ging zu Ende, das Mädchen verschwand in den Kulissen, kam gleich darauf wieder zum Vorschein und las aus seinem Buch:
»Hinab, du flammenhufiges Gespann,
Zu Phöbus Wohnung. Solch ein Wagenlenker,
Wie Phaeton jagt euch gen Westen wohl,
Und brächte schnell die wolk’ge Nacht herauf. -
Verbreite deinen dichten Vorhang, Nacht!
Du Liebespflegerin! Damit das Auge
Der Neubegier sich schließ’, und Romeo
Mir unbelauscht in diese Arme schlüpfe!«
Daß sie bei ›Wagenlenker‹ den Ton senkte, das ›schnell‹ zu stark betonte, das Schwergewicht der fünften Zeile auf ›dichten‹ legte und an mehreren anderen Stellen Mißverständnisse erkennen ließ, machte ihm so wenig aus wie die Nuancen ihres Ausdrucks; er hörte nur mit halbem Ohr hin, mehr war nicht nötig, um sich zu versichern, daß ihre Stimme für eine junge Frau geeignet war. So konzentrierte er seine Aufmerksamkeit ganz auf ihr Aussehen und Benehmen. Nach ein paar Minuten hielt sie inne und blickte erwartungsvoll zu den Männern. Einer der Akademiker sagte mit warmer Zustimmung in Stimme und Haltung:
»Das war sehr gut, Sarah. Denken Sie daran, einzelnen Wörtern nicht zuviel Bedeutung beizulegen – es ist die Gesamtwirkung, auf die es ankommt.«
»Ich verstehe. Aber ich bin mir über Phöbus und Phaeton noch nicht ganz im klaren. Wie sind meine Empfindungen zu ihnen?« Das Russisch des Mädchens war ausgezeichnet.
»Ich meine, Sie betrachten beide mit großem Respekt«, sagte der andere Akademiker. »Sie sind stolz darauf, eine Mitbürgerin und Nachbarin zweier solch vorzüglicher und berühmter Gestalten zu sein.«
In diesem Augenblick wurde eine unauffällige Tür neben der Bühne geöffnet, und Theodor Markow kam die Stufen zum Zuschauerraum herab. In seiner Begleitung war ein hochgewachsener Mann von ungefähr vierzig Jahren mit kurzgeschnittenem schwarzen Bart und großen, sehr dunklen Augen, die alles, was sie ansahen, in den Bann ihres Blickes zogen. Alexander kannte ihn vom Ansehen als Aram Sevadian, der eine leitende Stellung in der Kommission bekleidete, und wie es sich bald zeigte, tatsächlich Chef ihrer Theaterabteilung war. Alexander stand auf und schloß sich den beiden an. Unter Sevadians Führung gingen sie zum rückwärtigen Teil des Zuschauerraumes, wo sie sich am Ende einer Sitzreihe niederließen und mit rücksichtsvoll gedämpften Stimmen konferierten. Auf der Bühne war eine ältere Frau zu dem Mädchen getreten.
»Was halten Sie von unserem Stück?« fragte Sevadian.
»Ich bin noch nicht lang hier«, sagte Alexander, »aber es scheint vielversprechend.«
»Es freut mich, daß Sie so denken. Wir haben viel Mühe damit, wissen Sie. Ich schlug vor, daß wir ein anderes vom selben Autor versuchen sollten; anscheinend gibt es eins über einen dänischen Aristokraten, der verrückt wird und sich einbildet, er sehe einen Geist, der ihm die Ermordung seines Onkels befiehlt. Schlichter und gerader als dieses Stück, dachte ich, aber der Direktor, dieser junge Mann hier, schwört Stein und Bein, daß jetzt keine Zeit mehr für einen neuen Anfang sei,
Weitere Kostenlose Bücher