Das Auge des Leoparden
auf der Farm arbeitet, wird zu dem zerfleischten Tier geholt und identifiziert die kaum sichtbaren Abdrücke augenblicklich als Spuren von Leopardentatzen.
»Ein großer Leopard«, sagt er. »Ein einzelnes Männchen. Wagemutig, vielleicht auch listig.«
»Wo ist er jetzt?« fragt Werner Masterton.
»In der Nähe«, antwortet der alte Mann. »Möglich, daß er uns in diesem Moment beobachtet.«
Hans Olofson, der dabeisteht, spürt die Angst des Mannes. Leoparden sind gefürchtet, ihre Verschlagenheit übersteigt die des Menschen.
Man stellt dem Raubtier eine Falle. Das Kalb, das er gerissen hat, wird an einem Seil hochgezogen und in einem Baum festgebunden. Fünfzig Meter entfernt bauen sie aus Laub einen Unterstand mit einer Schießscharte.
»Gut möglich, daß er zurückkommt«, meint Werner Masterton. »Wenn er kommt, dann jedenfalls kurz vor dem Morgengrauen.«
Als sie zu dem weißen Haus zurückkehren, sitzt Ruth Masterton zusammen mit einer Frau auf der Terrasse.
»Eine gute Freundin von mir«, sagt sie. »Judith Fillington.«
Hans Olofson begrüßt eine hagere Frau mit ängstlichen Augen und blickt in ein blasses, gezeichnetes Gesicht. Das Alter der Frau läßt sich nur schwer schätzen, aber er vermutet, daß sie um die Vierzig ist. Dem Gespräch entnimmt er, daß sie Besitzerin einer Farm ist, auf der ausschließlich Eier produziert werden. Die Farm liegt nördlich von Kalulushi und wird durch den Kafue von den Kupferminen getrennt.
Hans Olofson hält sich im Schatten. Fragmente einer Tragödie nehmen nach und nach Gestalt an.
Judith Fillington ist vorbeigekommen, um den Mastertons mitzuteilen, daß es ihr endlich gelungen ist, ihren Mann für tot erklären zu lassen. Ein bürokratisches Bollwerk ist damit bezwungen worden.
Hans Olofson begreift, daß ihr Mann an seiner Melancholie zugrunde gegangen ist. Ein Mann, der plötzlich im Busch verschwunden ist. Geistige Verwirrung, ein überraschender Selbstmord, vielleicht auch ein Raubtier. Ein Körper, der nie gefunden wurde. Jetzt gibt es ein Dokument, das seinen Tod bestätigt.
Ohne amtlichen Stempel hat er wie ein Geist gespukt, denkt Hans Olofson. Zum zweitenmal höre ich von einem Mann, der einfach im Busch verschwindet.
»Ich bin müde«, sagt Judith Fillington zu Ruth Masterton. »Duncan Jones säuft sich zu Tode, er kann die Arbeit auf der Farm nicht mehr leiten. Sobald ich länger als einen Tag fort bin, bricht alles zusammen. Die Eier werden nicht ausgeliefert, der Lastwagen bleibt liegen, das Hühnerfutter geht aus.«
»Du findest keinen neuen Duncan Jones in diesem Land«, meint Werner Masterton. »Du mußt die Stelle in Salisbury oder Johannesburg ausschreiben. Oder in Gaborone.«
»Wen kann ich denn schon bekommen«, erwidert Judith Fillington. »Wer zieht schon hierher? Noch ein Alkoholiker?«
Sie leert ihr Whiskyglas mit einem Zug und streckt es aus, um es sich wieder füllen zu lassen. Aber als ein Diener sich mit der Flasche nähert, zieht sie das leere Glas zurück.
Hans Olofson sitzt im Schatten und hört zu. Immer entscheide ich mich für den Platz in der dunkelsten Ecke, denkt er. In der Gesellschaft anderer Menschen suche ich stets nach einem Versteck.
Beim Abendessen sprechen sie über den Leoparden.
»Es gibt eine Legende über Leoparden, die unsere alten Arbeiter oft erzählen«, ergreift Werner Masterton das Wort. »Wenn das Ende der Welt naht und es schon keine Menschen mehr gibt, wird es zu einer letzten Kraftprobe zwischen einem Leoparden und einem Krokodil kommen, zwei Tiere, die dank ihrer Verschlagenheit bis zuletzt überlebt haben. Die Legende hat kein Ende. Sie bricht in dem Moment ab, in dem die beiden Tiere einander angreifen. Die Afrikaner stellen sich vor, daß Leopard und Krokodil ihren Zweikampf bis in alle Ewigkeit weiterführen, bis in die endgültige Dunkelheit oder eine Wiedergeburt hinein.«
»Bei dem Gedanken schwindelt es einen«, sagt Judith Fillington. »Der absolute Endkampf auf Erden, ohne Zuschauer. Nur ein leerer Planet und zwei Tiere, die sich ineinander verbeißen.«
»Komm heute nacht doch mit«, schlägt Werner Masterton vor. »Vielleicht kehrt der Leopard ja zurück.«
»Ich kann sowieso nicht schlafen«, erwidert Judith Fillington. »Warum also nicht? Obwohl ich in diesem Land geboren bin, habe ich in meinem ganzen Leben noch keinen Leoparden gesehen.«
»Nur wenige Afrikaner haben jemals einen Leoparden gesehen«, meint Werner Masterton. »Die Abdrücke seiner Tatzen sind im
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