Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Geschenk für ihn. Wir waren damals zusammen, und ja, ich dachte, er würde mich heiraten, und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende. Tja, wie das Leben so spielt, unsere Affäre war sehr schnell wieder vorbei, und er hat mich nicht geheiratet. Vielleicht hatte ich einmal zu deutlich gesagt, dass ich keine Kinder mochte, und er war ganz vernarrt in die kleinen Biester. Aber ich bin an seiner Seite geblieben … und mir fehlt nichts. Was hätte eine Ehefrau, was ich nicht habe? Ich verbringe viel Zeit mit ihm, mehr, als seine Frau es tun würde. Ich fahre in seinen Luxusschlitten mit, ich wohne in diesem Schloss. Irgendwann wird er merken, dass er mich genauso gut heiraten könnte, doch wenn nicht, ist es auch egal.“
„Onkel Vincent ist unschuldig?“, fragte ich mit hämmerndem Herzen.
„Ja, natürlich“, sagte sie. „Der Arme hat so unter den Verdächtigungen gelitten. Und jetzt wirst du sterben, ohne dass du dich bei ihm entschuldigen könntest.“
„Wo ist er?“, rief ich.
„Er schläft. Schläft wie ein Stein, wie ein Baby. Wenn er aufwacht, wird alles längst vorbei sein. Na los, geh weiter, bevor ich die Geduld verliere!“
Das Loch im Dach war fast geschlossen. Auch wenn die Motten mich nie würden tragen können, rührte mich doch die gute Absicht. Fieberhaft überlegte ich, was ich noch fragen könnte.
„Und was hatte Thomas denn nun davon?“
„Thomas ist mein Cousin“, sagte sie. „Wir hatten vor, das Geld zu teilen … und nun teilen wir eben die Aufgabe, unsere Geheimnisse zu schützen.“
„Was ist mit Winky? Das waren auch Sie?“
„Den Köter hat Thomas erledigt“, erklärte Sabine. „Habe ich nicht gesagt, Hunde auf dem Grundstück sind verboten? Ihr hättet euch bloß dran halten müssen.“
„Fertig“, sagte Rico. „Gleich ist es so weit.“ Die Lücke war fast vollständig geschlossen. Wenn man nicht genau hinsah, war kein Unterschied zum übrigen Dach zu erkennen. Die Motten hatten ganz genau dieselbe grüngraue Farbe.
„Nun beweg dich endlich!“, befahl Sabine.
„Geh außen herum“, wies Rico mich an. „Langsam. Ganz langsam. Komm ihnen nicht zu nahe, schreck sie nicht auf.“
Ich gehorchte.
„Schneller!“, rief sie.
Ich machte eine ungeschickte Bewegung - und rutschte ab. Ich schrie, schrie vor Todesangst, als die Dachkante auf mich zu raste. Mit dem Fuß stieß ich an die Regenrinne, die mich abbremste. Sie knarrte verdächtig, und ich glaubte schon, dass sie nachgeben und mit mir zusammen in die Tiefe stürzen würde. Doch sie hielt. Einen langen Moment hörte ich auf zu atmen, dann kletterte ich wieder vorsichtig höher.
„Komm nicht in Sabines Nähe“, warnte Rico.
„Was soll denn das?“, fragte Sabine ärgerlich.
„Das Dach ist fest“, sagte ich. „Es will einfach nicht durchbrechen.“
„Dann spring doch einfach! Mach es dir nicht so schwer.“
Sie hob die Pistole, zielte auf mich.
Rico wedelte mit den Händen, und als hätte er einen Hund von der Kette gelassen, flatterten auf einmal von überall her Motten auf sie zu. Sie krabbelten ihr ins Gesicht, krochen über ihre Kleidung und ihre Hände. Nun war sie es, die panisch schrie. Ein Schuss löste sich, schlug irgendwo weit über mir ins Dach ein. Sabine warf die Pistole weg, schlug und wischte, kreischte und jammerte, doch schließlich hatte sie fast alle Motten abgestreift. Immer noch fluchend kletterte sie aus dem sicheren Turm aufs Dach hinaus.
„So nicht“, sagte sie böse. „So kommst du mir nicht davon.“
„Sie hat keine Waffe mehr“, sagte Rico triumphierend.
Das tröstete mich etwas, aber nicht sehr. „Ich schätze, jetzt will sie mich schubsen.“
Ich wollte mich weiter zurückziehen, aber da knirschte es unter meinen Knien. Dieses Geräusch kannte ich. Mein Herzschlag setzte aus vor Schreck. Statt aufzustehen, legte ich mich flach auf die Schindeln.
An den Erschütterungen im Dach konnte ich hören, wie Sabine näherkam. Über den First tappte sie auf mich zu, ihre bösen, kalten Augen auf mich gerichtet.
„Jetzt“, flüsterte Rico.
Sabine hatte gesehen, wie ich übers Dach gegangen war, ohne irgendwo einzubrechen. Ihr fiel die Stelle, die die Motten abgedeckt hatten, nicht auf, und sie dachte offenbar nicht daran, dass ich schon einmal eingebrochen war und das Loch immer noch existieren musste. Sie kam, um mich zu töten.
Dann trat sie in die hauchdünne lebende Schicht der Motten - und fiel mit einem lauten Schrei.
Wirbelnd flatterten die
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