Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
würde Luca verbrennen. Und wenn Rico kein Wunder vollbrachte, würde Sabine mich vom Dach stoßen. Wie wollte er das verhindern? Er hatte versprochen, mich zu beschützen, aber wir wussten beide, wie wenig er bewirken konnte.
Sabine erschien hinter mir an der offenen Tür des Turms.
„So, meine Liebe.“
„Nennen Sie mich nicht so!“, fauchte ich. „Was wissen Sie schon davon, was Liebe ist!“
„Oh, viel“, sagte sie. „Mehr, als du dir vorstellen kannst. Alles, was ich getan habe, habe ich aus Liebe getan. Es lief nicht gut mit der Firma, musst du wissen. Paul wollte aussteigen und sein Geld in Sicherheit bringen. Aber Vincent hatte so viele Ideen. Visionäre Ideen. Er ist ein Genie auf seinem Gebiet, der geborene Geschäftsmann. Wie ein Abenteurer hatte er neue Produkte im Blick, neue Märkte. Wenn er wenigstens eigenes Geld gehabt hätte … und wenn die Meyrinks gezahlt hätten, einfach bloß gezahlt, wäre niemandem etwas passiert. Warum haben sie die Polizei eingeschaltet?“ Sie bewegte die Hand mit der Pistole. „Na los, auf den First. Mal sehen, wie weit du kommst.“
Ich wagte einen vorsichtigen Schritt auf die Schindeln. Sofort war Rico an meiner Seite. „Hier ist der Firstbalken. Wenn du genau hier gehst, brichst du nicht ein.“
„Okay“, flüsterte ich. Seine Nähe verlieh mir die Sicherheit, Sabine weitere Fragen zu stellen.
„Was war mit den Kindern?“
Sabine war im Türrahmen zum Dach stehengeblieben und beobachtete mich scharf.
„Die Meyrinks haben alles verdorben! Die Geldübergabe ging schief. Paul und Angelina waren außer sich wegen ihrer Blagen. Sie fingen an, Vincent zu verdächtigen. Das hätten sie nicht tun dürfen, verstehst du? Er verdiente dieses Misstrauen nicht, er war doch völlig ahnungslos! Ich gab Angelina das Beruhigungsmittel, das der Arzt ihr verschrieben hatte, in ihren Tee. Es war so leicht, beinahe zu leicht. Sie hat es nicht gemerkt und sich ans Steuer gesetzt, um zur Polizei zu fahren … und den Rest kennst du ja. Und, verdammt noch mal, geh endlich weiter!“
„Waren die Kinder da schon tot?“ Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Rico warnte mich vor jeder unsicheren Stelle, aber ich merkte, dass er genauso gespannt zuhörte wie ich.
„Das Geld gehörte jetzt Vincent. Das ganze Geld, denn er stand im Testament. Solange die Kinder nicht wieder auftauchten, war alles seins. Warum hätte ich sie da rausholen sollen? Niemand würde sie je finden.“
Vor mir drohte das Loch im Dach, durch das ich beim letzten Mal eingebrochen war.
„Beweg dich nicht“, sagte Rico. „Hier ist es kritisch.“
Ich gehorchte und hielt still. Die Sonne tauchte den Garten in ein sanftes Glühen, doch ich wandte den Blick nicht von dem unsicheren Boden zu meinen Füßen ab.
„Warum hat die Polizei die Kinder denn nicht gefunden?“, fragte ich.
Sie lachte. „Sie haben den ganzen Garten abgesucht. Sogar mit Hubschraubern mit Wärmekameras. Aber da waren die Kinder noch im Dorf, in Thomas‘ Wohnung. Im Dorf nützen einem solche Kameras nichts, stimmt’s? Sobald das Anwesen durchkämmt war, haben wir sie wieder hergebracht. Sie waren betäubt. Mucksmäuschenstill. So habe ich Kinder gerne.“
Wenn das Dach bloß nicht so hoch gewesen wäre. Fast war ich froh, dass ich den Boden nur verschwommen erkennen konnte. Dann konnte ich mir vorstellen, in etwas Watteweiches zu fallen. In die Dunkelheit, in der Rico mich erwartete.
Vor meinen Augen verkleinerte sich die Lücke im Dach. Ich blinzelte, aber ich konnte nicht deutlich sehen, was da geschah. Wie war das möglich? Da war ein Huschen, ein lautloses Flattern. Das Loch wuchs zu, so rasant, dass auch bessere Augen als meine ihre Schwierigkeiten gehabt hätten. Die Motten formierten sich, eine neben der anderen, dicht an dicht, wie winzige Dachschindeln.
„Halte sie am Reden“, bat Rico. „Wir sind noch nicht fertig. Es ist wie ein Wunder - heute tun die Falter genau das, was ich von ihnen will.“
Ich konzentrierte mich wieder auf Sabine, bevor sie merken konnte, was hier vor sich ging. „Ich versteh das immer noch nicht. Wozu das alles? Was hatten Sie und Thomas davon? Sie sind immer noch Assistentin und Thomas ist bloß Gärtner. Vincent Riebeck hat alles bekommen. Er hat Sie beide benutzt und betrogen.“
„Ach, Kindchen, du glaubst doch nicht, dass er davon wusste? Er wäre nie mit so einer Tat fertig geworden. Darin ist er wie sein Bruder. Zu sensibel für diese Welt. Nein, es war mein
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