Das Auge des Nachtfalters: Mystery-Roman (German Edition)
Falter auf und versperrten mir die Sicht. Erst als sich ihre Aufregung gelegt hatte, konnte ich Sabine sehen. Sie war noch da; wie ich vor ein paar Wochen krallte sie sich an einen der Balken.
„Hilf mir!“, japste sie. „Halte mich!“
„Wenn du dich bewegst, brichst du ein, Alicia“, sagte Rico zu mir. „Rühr dich nicht von der Stelle.“
Ich blieb, wo ich war.
Es gab keine Rettung für sie. Sabine klammerte sich fest, schrie und flehte, doch schließlich konnte sie sich nicht länger halten. Ihre Hände rutschten ab. Ein letzter Schrei ertönte.
Ich hörte den dumpfen Aufprall, mit dem sie unten aufschlug.
Eine Filmheldin wäre jetzt vom Dach geklettert, die Stufen nach unten, und hätte Luca aus dem brennenden Haus gerettet. Aber ich war keine Heldin. Ich lag nur da und konnte gerade noch mein Schluchzen unterdrücken; ich befürchtete, die Erschütterung würde das Dach einstürzen lassen. Die Füße knapp über der Dachrinne, hielt ich still und wagte kaum zu atmen. Was unten passierte, konnte ich nicht sehen, ich roch nur den Rauch, und irgendwann erklangen die Sirenen der Feuerwehr oder der Polizei, vielleicht auch von beiden. Stumm presste ich meine Wange ans Moos und betete.
„Halte durch, Alicia“, sagte Rico, der die ganze Zeit über bei mir blieb. „Da kommen Autos, sie fahren doch tatsächlich einfach über den Rasen. Und da ist schon die Feuerwehr. Sie haben dich gesehen, sie fahren die Leiter aus.“ Er hätte mir sonst was erzählen können, ich verstand kaum, was er sagte.
„Alicia. Es wird alles gut, da kommt die Rettung.“
Ich dachte, er wollte mich nur trösten, deshalb war es eine Überraschung, als ich fremde Hände spürte und jemand mich vom Dach hob.
„Ist ja gut“, sagte eine bekannte Stimme.
„Tony“, flüsterte ich und schlang die Arme um seinen Hals. „Was machen Sie hier?“
„Tony? Ich heiße Fabrizio. Ich bin bei der Feuerwehr, hatte ich das nicht erwähnt?“
„Luca“, wisperte ich mit letzter Kraft. „Ihr müsst … Luca …“
Wir waren unten angelangt. Fabrizio setzte mich auf einer Trage ab. „Meinst du meinen Neffen? Da sitzt er doch.“
Luca hockte auf der Wiese neben dem Krankenwagen. Heute war er so blass wie Rico, aber sein Lächeln war breit und zuversichtlich wie immer.
„Er hat ein Loch in der Mauer gefunden und ist rausgeklettert“, erklärte Fabrizio stolz. „Ein Kunststück mit dem verletzten Arm. Dann hat er uns angerufen.“
„Wie?“, fragte ich schwach. Das interessierte mich dann doch.
„Sabine hat mir mein Handy abgenommen“, sagte Luca. „Aber ich hatte ja noch deins in der Tasche.“
Schwindlig vor Erleichterung ließ ich mich zurücksinken, da fiel mir noch etwas anderes ein.
„Wo ist mein Vater? Ist er …“
„Hier bin ich.“ Mein Vater wurde gerade im Krankenwagen behandelt, ein Arzt war dabei, seinen Kopf zu verbinden.
„Was ist passiert?“, fragte ich entsetzt. „Hat Sabine …“
„Das“, er wies auf seine zerschrammte Gesichtshälfte, „stammt von meinem Kampf mit Thomas. Das hättest du sehen sollen!“
„Du hast mit Thomas gekämpft?“, staunte ich. „Aber woher wusstest du denn, dass er mit drinsteckt?“
„Als ich zu mir gekommen bin - keine Ahnung, was in diesem Wasser war, das Sabine mir gegeben hat! -, stand es an der Wand geschrieben. Dass Thomas einer der Entführer ist und ich ihn aufhalten soll.“
„Es stand an der Wand?“
Mein Vater senkte die Stimme. „Die Motten“, sagte er. „Die Motten haben die Worte gebildet. Verrückt, nicht?“
„Ja“, stimmte ich zu. „Das ist es tatsächlich.“
Es war, wie Sabine gesagt hatte: Onkel Vincent hatte die ganze Aufregung verschlafen. Er besuchte uns im Krankenhaus, wo Luca und ich uns von der Rauchvergiftung und dem Schock erholten; außerdem hatten wir beide eine leichte Gehirnerschütterung von den Schlägen auf den Kopf. Mein Vater war sogar noch schlimmer dran.
„Er hat gekämpft wie ein Berserker“, sagte Onkel Vincent. „Das hättest du sehen sollen.“
„Eigentlich bin ich froh, dass ich nicht dabei war“, meinte ich.
„Ich habe es auf Band“, sagte er. „Die Überwachungskamera hat es aufgenommen. Vielleicht möchtest du’s dir ja doch irgendwann anschauen.“
„Ich weiß noch nicht, ob ich ihm verzeihen will“, sagte ich.
Onkel Vincent saß an meiner Bettkante und streichelte gedankenverloren meine Hand.
„Tobias hat Ricardo nicht ausgesetzt“, sagte er. „Er hat ihn nach Italien gebracht, zu
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