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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weigerte sich, die Scheinwerfer einzuschalten, denn die Gebirgspatrouillen der Soldaten waren gelegentlich auch nachts unterwegs.
    Shan hatte die Feder in dem gau verstaut, das er um den Hals trug. Während der Wagen sich weiter durch die Finsternis vorantastete, schloß Shan die Hand um das Medaillon und begann nachzudenken. Stellte die Feder einen Hinweis dar? Oder gar ein gutes Omen? Dann jedoch sah er wieder den sterbenden Jungen vor sich und verneinte die Frage. Wahrscheinlich sollte dieses Zeichen der Schönheit ihm lediglich etwas Halt geben, je näher er sich mit der Scheußlichkeit der Morde auseinandersetzen mußte.
    Stunden später, nachdem Shan und Lokesh abermals einen Felsbrocken von der Straße gerollt hatten und wieder auf die Ladefläche des Lastwagens kletterten, gesellte Jowa sich zu ihnen und überprüfte die Fässer, die mit Seilen an dem metallenen Fahrzeugrahmen festgezurrt waren. Die meisten der Behälter enthielten Salz, das in den Lagerstätten des Zentralplateaus gewonnen wurde und in dieser Region schon seit Jahrhunderten zu den wichtigsten Handelsgütern zählte. Direkt hinter dem Führerhaus standen jedoch unter einer ölbefleckten Plane zwei leere Fässer verborgen, die Shan und Gendun als Versteck dienen sollten, falls sie auf eine Patrouille stießen. Dies war bereits ihr dritter Wagen, denn schon zweimal hatten sie ihren Weg durch das Gebirge nur auf dem Pferderücken fortsetzen können, jeweils geführt von Männern, die allein mit Jowa sprachen. Jeder der Wagen hatte ähnliche Salzfässer geladen, einschließlich zweier Attrappen mit sorgfältig präparierten, knapp zehn Zentimeter hohen und mit Salz gefüllten Einsätzen, die den Hohlraum vollständig tarnten.
    Lokesh und Jowa würden mit ihren Papieren vermutlich als Salzhändler durchgehen können, aber Shan und Gendun blieb nur die Möglichkeit, sich zu verstecken.
    Jowa half, Lokesh in eine Decke zu wickeln. Obwohl auf den vorderen Sitzen genug Platz war, hatte der alte Tibeter sich im Verlauf der Reise fast jedesmal dafür entschieden, lieber hinten bei Shan zu bleiben. Während er sich mit dem Rücken an das Führerhaus lehnte, kehrte Jowa zum hinteren Ende des Fahrzeugs zurück. Dort hielt er einen Moment inne und stützte sich gegen eine der metallenen Streben.
    »Kurz vor Sonnenaufgang werden wir jemanden treffen«, verkündete er durch die Dunkelheit.
    »Wen?« fragte Shan.
    »Jemanden, der uns dorthin bringen wird«, erwiderte Jowa in dem distanzierten, beinahe ablehnenden Tonfall, den er Shan gegenüber stets an den Tag legte.
    »Wohin?«
    »An den Ort, an den wir uns begeben müssen.«
    Shan seufzte. »Du glaubst noch immer, ich würde nicht hierhergehören.«
    »Man hat mir gesagt, ich solle dich herbringen, also bringe ich dich her.«
    »Warum?«
    Jowa stieß ein hohles, bitteres Lachen aus. »Für die alten Lamas gibt es kein Warum. Der Frau war bestimmt, ermordet zu werden. Dir war bestimmt, an diesen Ort zu kommen.«
    »Nein, ich meine, warum du? Du hättest dich weigern können.«
    »Ich kenne diese Gegend. Vor einigen Jahren habe ich hier oben dabei geholfen, die Armee zu beobachten.«
    »Du hättest dich weigern können«, wiederholte Shan.
    Diesmal dauerte es etwas länger, bis Jowa antwortete. Als er dann das Wort ergriff, klang seine Stimme sanfter. Nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht abweisend. »Die Lamas werden alt. Ich weiß nicht, was ohne sie aus Tibet werden soll. In zwanzig, dreißig Jahren - wer wird dann in die Einsiedlerklausen steigen? Wer wird dann im Innern eines Berges leben, weil die Seele des Landes Hilfe braucht?«
    »Du womöglich.«
    »Nein. Ich nicht. Niemand wie ich. Die Chinesen haben mich auf einen anderen Weg geführt. Ich bin vom Haß vergiftet«, stellte er sachlich fest, als spräche er von einer körperlichen Beeinträchtigung. »Ich habe eine Waffe abgefeuert.« Er blickte zum Mond empor, und zum erstenmal glaubte Shan Traurigkeit auf dem Gesicht des purba zu entdecken. »Wie könnte ich je hergehen und mich in einen Berg setzen, wo ich doch eine Waffe abgefeuert habe?« Jowa hatte sich diese Frage offenbar schon viele Male gestellt. »Und wer bleibt sonst noch übrig?« Er sprang von der Ladefläche und verharrte im Mondschein. »Als man mir die Mönchslizenz entzogen hat und ich in den Untergrund ging«, sagte er, an den Mond gewandt, »war ich noch fest davon überzeugt, Tibets größtes Problem sei der mangelnde Widerstand. Es kam mir so vor, als würden wir uns

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