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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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jedem Konflikt dermaßen wortreich entziehen, daß wir am Ende für gar nichts mehr eintraten.« Er schüttelte den Kopf und schaute weg, in Richtung der dunklen Gipfel. »Heute.« Er zuckte die Achseln. »Im Gefängnis beschloß ich, wir seien wohl zu wenige, um offenen Widerstand zu leisten, und müßten uns daher auf den Schutz der Lamas beschränken und so unsere Traditionen dem Zugriff Pekings entziehen. Aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Unsere Traditionen sind die Lamas, und die Lamas sind genauso sterblich wie wir anderen auch. Wir können versuchen, Peking aufzuhalten, aber die Zeit werden wir nicht besiegen. Falls die Lamas nicht überleben, falls das, wofür sie stehen, nicht weitergegeben wird, was für einen Sinn hat dann alles noch?«
    Shan erkannte, daß Jowa ihm tatsächlich in gewisser Weise erklärte, weshalb er das ungleiche Trio auf dieser rätselhaften Mission begleitete. Im Mondlicht sah Shan ihn erneut die Achseln zucken. »Sie bitten uns so gut wie nie um etwas. Es ist unmöglich, einfach nein zu sagen.«
    Doch Shan wußte, daß Jowa auch die tieferen Zusammenhänge durchaus begriff. Die Lamas taten nichts aus reinem Zufall. Sie hatten sich nicht an Jowa gewandt, weil er einen Lastwagen fahren konnte oder als Widerstandskämpfer mit dieser Region vertraut war. Sie hatten sich an ihn gewandt, weil er Jowa war.
    »Dieser Nomade und seine Frau«, sagte Shan, als Jowa sich anschickte zu gehen. »Wie konnten sie über uns Bescheid wissen? Das alles hätte doch geheim bleiben müssen. Ich dachte, die Nachricht wäre durch die purbas nach Lhadrung gelangt, und niemand sonst hätte von unserer Reise erfahren.«
    »So ist es auch gewesen. Die purbas wissen, wie man ein Geheimnis bewahrt.«
    »Die beiden sagten, wir seien gekommen, um die Kinder zu retten. Zwei Jungen sind bereits tot.«
    »Eine Lehrerin ist gestorben und ein Lama verschwunden. Mehr hat man mir nicht gesagt.« Jowa ging um die Ecke des Wagens. Kurz darauf erwachte dröhnend der schwere Motor zum Leben.
    Shan nahm eine Mütze vom Boden, eine zerlumpte wattierte Armeemütze mit dicken Ohrenklappen. Er setzte sie auf und lehnte sich gegen eines der seitlichen Fässer, so daß er den Mond im Auge behalten konnte. Die purbas hatten ihnen die geheime Botschaft vom Tod der Frau gebracht. Inzwischen reiste mit den Nomaden allerdings ein weiteres Geheimnis Richtung Süden, das von Kindern und Tod handelte und von den Fremden aus Lhadrung, die zu Hilfe eilten.
    Sie kamen an einem Wasserfall vorbei, der wie ein Strom aus glitzernden Diamanten wirkte. Neben Shan ertönte ein leises kehliges Brummen. Lokesh war eingeschlafen. Shan vergrub die Hände tief in den Jackentaschen, um sich zu wärmen, und umfaßte dabei das kleine Tongefäß, das Gendun ihm am Abend ihrer Abreise gegeben hatte. Es enthielt heiligen Sand aus dem Mandala. Shan schloß den Griff fest darum und starrte zum Himmel.
    Der Mond, den er dort sah, war nicht mehr derselbe Mond wie im Tiefland, im China seines ersten Lebens. Wie so vieles andere in seinem zweiten Dasein, seinem tibetischen Leben, war der Mond hier wesentlich absoluter als damals in Peking. In Tibet leuchtete er dermaßen strahlend und rein, wirkte so unglaublich nahe, daß man geneigt war, den alten Geschichten zu glauben, nach denen umherstreifende Seelen sich manchmal im Mondgebirge verirrten.
    Es gab Nächte, in denen Shan sich in solch einem Mond verlor und stundenlang von der Schönheit des Anblicks gefangengenommen wurde. Heute nacht jedoch ließ der tote Junge ihm keine Ruhe und lenkte ihn von der Schönheit ab. Ihr müßt euch beeilen, hatte der Mann gesagt. Der Tod geht weiter um. Jeder andere hätte das als Aufforderung zur Flucht verstanden, um selbst dem drohenden Verhängnis zu entgehen. Shan hingegen begriff es als Aufforderung, sich dem Tod zu stellen. Eine Woge der Hilflosigkeit schlug über ihm zusammen, und er wußte, daß sein Antlitz in diesem Moment genauso traurig und verwirrt wirkte wie bisweilen die Mienen der Tibeter. Bei ihrem Aufbruch sieben Nächte zuvor hatten sogar einige der Lamas auf diese Weise dreingeschaut. Nach allem, was sie ihm erzählt hatten und was Gendun ihm immer noch fortwährend erzählte, hätten sie genausogut die Worte des Nomaden wählen können. Ihr müßt euch beeilen. Der Tod geht weiter um. Mehr konnten die Lamas nicht begreifen. Mord war ein unbekanntes Land für sie, und Shan fungierte als ihr Abgesandter.

Kapitel 2
    Nach Mitternacht, als sie wieder einmal

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