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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sein habe nichts mit einem Gebäude zu tun. Ein alter Mönch in meinem Gefängnis hat es am treffendsten formuliert. Ich trage mein gompa auf dem Rücken. Es ginge nur darum, dem inneren Gott zu dienen, hat er gesagt, und der innere Gott könne nicht durch Bomben zerstört werden. Ich glaube, Lu hat eine Möglichkeit gefunden, ihrem inneren Gott in Yutian zu dienen.«
    Gendun sah ihn nicht nur an. Er schien Shan vielmehr genau zu beobachten, als geschähe mit ihm in diesem Moment etwas Bedeutendes.
    »Sie hat während der letzten Jahre das Leben einer Kasachin geführt und wurde in kasachischer Kleidung bestattet«, fuhr Shan langsam fort. »Aber sie hat darum gebeten, neben dem Unterrichtsraum des alten Lama beigesetzt zu werden, der als Wasserhüter auftritt. Sie hat Jakli in den alten tibetischen Bräuchen unterwiesen. Und sie hat dem Lama bei seiner geheimen Lehrtätigkeit geholfen.«
    Von der Tür drang wieder ein Geräusch, gefolgt von einer Bewegung hinter ihm. Er sah nicht hin, als jemand neben ihm Platz nahm. Er wußte auch so, daß es Jakli war.
    »Wir haben uns immer an den Festtagen gesehen«, sagte Lokesh versonnen. »Die Mönche aus unserem gompa und diese Nonnen. Lau gehörte zu einer kleinen Sekte aus einem winzigen Kloster, das in der Nähe eines Gletschers nördlich von Shigatse stand. Auf einem Berghang haben wir dann ein riesiges thangka entrollt - es war bestimmt dreißig Meter lang. Es gab Wettbewerbe im Bogenschießen, und Akrobaten sind auf hohe Pfähle geklettert, um Gebete zu holen, die dort oben befestigt waren. Die Nonnen sangen für uns, und wir servierten ihnen besonderen tsampa, den wir mit Kardamom gewürzt hatten.« Er streckte seine lange, knochige und mit Altersflecken übersäte Hand nach den Lichtern aus. Jakli nahm sie und umschloß sie fest, als wolle sie Lokesh danken. Oder ihn vielleicht trösten. »Später«, sagte er seufzend, »sind Leute gekommen und haben ihr Kloster verbrannt.« Er fing an, die Melodie eines der alten Lieder zu summen, während sie alle in die Flammen der Lampen starrten. Dann hielt er inne. »Sie hatte einen langen Weg hinter sich und mußte am Ende einen solchen Tod in der Wüste sterben«, fügte er hinzu.
    »Inzwischen hat man einen anderen Tibeter als Lehrer für die Kinder geschickt«, sagte Shan.
    »Befindet dieser Lehrer sich dann nicht auch in Gefahr?« fragte Gendun.
    Nein, wollte Shan sagen, denn Kaju arbeitet für die Brigade. »Nein«, sagte er statt dessen, »denn der Mörder hat die Waisen bereits gefunden.«
    »Du meinst im Lager des kasachischen Clans.«
    »Und danach den Jungen, den wir am Straßenrand beerdigt haben. Zuerst Lau, denn sie mußte dem Mörder die Aufenthaltsorte der Kinder verraten. Womöglich ist der Täter hinter allen Waisen her«, sagte Shan wütend. »Akzu, der alte Kasache, vermutet, es könne sich um jemanden aus der Vergangenheit handeln, der zurückgekehrt ist, um die Kinder seiner Feinde zu vernichten.«
    Lokesh schüttelte unmerklich den Kopf. Die Bewegung war kaum wahrnehmbar, aber sie entging Shan nicht.
    »Vielleicht hat er Lau auch nur nach einem bestimmten Jungen gefragt und dann festgestellt, daß es sich um das falsche Kind handelte«, sagte Shan. »Der Mörder hat beiden Jungen die Hemden und ein Hosenbein zerrissen. Erst Suwan, dann Alta.« Er sah Lokesh an und versuchte aus ihm schlau zu werden. »Er hatte sich einen Jungen beim Lager des Roten Steins gegriffen, doch dieser Junge besaß nicht, was er wollte. Unter Umständen hat der Mörder nach etwas gesucht. Eventuell nach etwas aus Laus Besitz, das sie einem der Waisenkinder anvertraut hatte. Falls er es gefunden hätte, wieso sollte er auch noch das zweite Kind angreifen?«
    »Vielleicht haben die Kinder etwas getan, mit dem Lau oder ihr Mörder nie gerechnet hätten«, wandte Lokesh bedächtig ein.
    Shan sah seinen alten Freund an und nickte.
    »Falls das zutrifft, ist der Dämon vielleicht gar nicht hinter den Kindern her«, sagte Jakli. »Er nimmt sich lediglich eines nach dem anderen vor, bis er findet, was er braucht. Oder was sie braucht«, sagte sie mit einem kurzen Seitenblick auf Shan.
    Sie starrten in die Flammen. Von irgendwo schien ein tiefes Stöhnen zu erklingen. Es konnte der Wind sein. Vielleicht auch der Berg, der sich zu äußern versuchte.
    »Du hast Laus Geheimnis herausgefunden«, sagte Gendun mit langsamem Nicken und sah dabei Jakli an. »Vielleicht ist das genug. Die Enthüllung von Laus heimlichem Unterricht.«
    Jakli

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