Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
sprach Laus Namen aus. Es klang wie ein Seufzen. Dann blickte sie auf und nickte. »Ihr Weg wurde erkannt«, stimmte sie zu. »Um den Kreis ihres Lebens zu schließen, können alle, die ihr nahestanden, nun Laus Wahrheit erfahren. Sie war eine heimliche Buddhistin. Diese Erkenntnis sollte genügen.« Jakli sah Shan an und zuckte die Achseln. »Wir wissen, wer der Feind der heimlichen Buddhisten ist. Ich glaube, dies wird ausreichen, um noch weitere Nomaden davon zu überzeugen, daß sie die zheli beschützen und ihnen wenigstens bis zum Ende des Winters ein Versteck bieten.« Der Dämon war die Regierung, meinte sie. Und niemand konnte die Regierung aufhalten. »Mehr kann keiner von uns tun«, sagte sie zu Shan und biß sich wie unter Schmerzen auf die Lippe. »Jetzt können Sie in Ihr neues Leben aufbrechen.«
    Gendun neigte den Kopf, und sein Blick schien sich ins Leere zu richten, was bedeutete, daß er in tiefer Meditation versank. Lokesh begann, die Perlen seiner mala durch die Finger gleiten zu lassen, und stimmte ein Gebet an den Mitfühlenden Buddha an.
    Die beiden Tibeter würden Shan nun nicht mehr hören, auch wenn er sie mit den Fragen überhäuft hätte, die ihm auf der Zunge brannten. Jakli schien ebenfalls in einer Art Trance zu versinken. Ihr Blick war starr auf Gendun und Lokesh gerichtet, und sie reagierte nicht, als Shan aufstand. Er nahm seine Lampe und trat hinaus in die dunklen stillen Korridore von Senge Drak. Es drängte ihn, jeden Winkel dieses bemerkenswerten dzong zu erforschen, und er bedauerte, daß ihm dafür nur noch wenige Stunden bleiben würden. Schon bald stieß er auf eine lange Reihe winziger Räume, die man allesamt in den Felsen gehauen hatte. Vor einigen hingen Stoffetzen Meditationszellen. Nach mehr als fünfzig Metern war noch immer kein Ende der Unterkünfte abzusehen, und Shan blieb stehen, weil schon die reine Anzahl der Räume ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Manche Festungen besaßen Trainingseinrichtungen für die dort stationierten Truppen. Senge Drak verfügte über Kammern zur Meditation.
    Er betrat eine Klause, deren Vorhang noch größtenteils intakt war, und ließ sich im Lotussitz nieder. Die Lampe stellte er auf den Boden. Dann schloß er die Augen. Wenn er auch nicht in der Lage sein würde, mit dem Berg zu sprechen, so vermochte er doch dessen friedliche Ausstrahlung zu verspüren. Die Verdächtigungen und Ängste, die verschiedenen Möglichkeiten wirbelten in seinem Kopf umher. Er war verwirrter als je zuvor. Alles war zu unscharf. Es gab zu viele losgelöste Personen, zu viele verschiedene Kräfte, die an ihm zerrten. Jemand würde ihn retten und ihm ein neues Leben verleihen. Alles, was er brauchte, hatte Lokesh gesagt. Aber auf diese Weise würde Lau und ihren Kindern keine Gerechtigkeit widerfahren. Wer sollte den Mörder finden? Wer würde den Wasserhüter retten?
    Seine Hände formten ein mudra , den Diamanten des Verstands. Er mußte Jakli und den Maos etwas erklären, das er selbst nicht begriff. Es würde helfen, sich vorerst auf die einfachen Schlußfolgerungen zu besinnen, denn die trafen meistens zu. Anklägerin Xu haßte Tibeter. Wahrscheinlich hatte, sie herausgefunden, daß Lau eine tibetische Nonne war, und daraufhin allen Kindern der zheli nachgespürt, die ebenfalls über tibetische Wurzeln verfügten. Sie oder einer ihrer Handlanger war ins Lager des Roten Steins gekommen und hatte den ersten Jungen ermordet, in der Annahme, es handle sich um Khitai. Vermutlich hatte man Lau den Namen gewaltsam entrungen. Es hieß zwar, Khitai habe keine tibetischen Wurzeln, doch das gleiche hatte man auch von Bajys behauptet. Vielleicht war Khitai auch nur ein kasachischer Junge, in dessen Besitz sich das tibetische Ding befunden hatte, das Gendun und Lokesh solche Sorgen bereitete - Laus Schatz, der mittlerweile von einem Waisen zum nächsten weitergereicht wurde, dem Mörder stets einen Schritt voraus.
    Als Shan die Augen öffnete, bemerkte er etwas in der Ecke des Raums, ein langes Stück grob gewebten Wollstoffs, das einst vielleicht ein Meditationskissen bedeckt hatte. Er hob es an und erschrak, denn darunter kam eines der Artefakte von Senge Drak zum Vorschein, ein anmutig geschwungener Bogen ohne Sehne. Shan zog den Stoff vollständig beiseite und entdeckte eine kleine Schachtel aus Kampferholz, die mit komplizierten geometrischen Mustern verziert war. Er nahm den Deckel ab und fand darin eine ordentlich aufgerollte Bogensehne vor, so wie sie ihr

Weitere Kostenlose Bücher