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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einstiger Besitzer zurückgelassen hatte. Wann? Vor hundert Jahren? Nein. Jakli hatte gesagt, der dzong habe jahrhundertelang leer gestanden. Also war es mindestens zweioder dreihundert Jahre her. Er nahm den Bogen und legte ihn sich in den Schoß.
    Dann wandte er sich wieder der Schachtel zu. Es gab darauf vier Reihen sich wiederholender Muster, zwei oben und zwei unten. Er hatte mit seinem Vater viele Stunden damit verbracht, mittels einiger hingeworfener Holzstäbe oder Würfel zufällig Verse des Taoteking zu bestimmen und diese dann zu erforschen. Am liebsten jedoch hatten sie nach Mustern in ihrer Umgebung Ausschau gehalten und daraus dann Tetragramme abgeleitet, jene vierzeiligen Kombinationen, die auf eines der einundachtzig Kapitel des Buches verwiesen und von allen TaoSchülern auswendig gelernt wurden.
    Shan zählte immer sechs der winzigen Dreiecke in der oberen Reihe ab. Nach der letzten Sechsergruppe blieben drei übrig, was in dem Deutungssystem einer durchbrochenen Linie aus zwei Segmenten entsprach, der Basis des Tetragramms. Er zeichnete die Linie mit dem Finger auf den staubigen Boden. Nachdem er die zweite Reihe abgezählt hatte, die aus winzigen Blumen bestand, blieben zwei übrig, so daß der nächste Teil des Tetragramms von einer durchgehenden Linie gebildet wurde. Die dritte Musterreihe der Schachtel setzte sich aus siebenundneunzig kleinen Kreisen zusammen, was eine Eins und somit eine weitere durchgezogene Linie bedeutete. Die Quadrate der letzten Reihe endeten mit einem Rest von fünf, was eine doppelt geteilte Linie ergab. Das Tetragramm dort vor ihm im Staub war eine dreiteilige über einer durchgehenden, dann noch einer durchgehenden und schließlich einer zweigeteilten Linie. In der Tabelle des Taoteking kennzeichnete dieses Tetragramm das Kapitel sechsundfünfzig.
    Shan lächelte traurig. Zu der Zeit, als alle offiziellen Tempel auf Geheiß der Regierung geschlossen bleiben mußten, hatte Shan in Peking zu den regelmäßigen Besuchern eines geheimen Tempels gezählt. Die Inschrift auf der Tür dieses Tempels war ebenjener Vers aus dem Taoteking gewesen. Er rezitierte die Zeilen im Flüsterton, so wie früher ein Kriegermönch in dieser Zelle vielleicht flüsternd die Perlen seiner mala gebetet hatte.
    Wer weiß, spricht nicht.
    Wer spricht, weiß nicht.
    Versperre den Zugang.
    Schließe die Tür Glätte die Kanten.
    Entwirre die Unordnung.
    Erkenne die Klarheit.
    Mach dir den Lauf der Welt bewußt.
    Nachdem er geendet hatte, betrachtete Shan eine Weile den alten Bogen. Dann entrollte er langsam und mit zitternden Fingern die Sehne und spannte sie in die Waffe ein. Weshalb eigentlich wurde zur Meditation nicht grundsätzlich ein Bogen verwendet? überlegte Shan. So vollendet flexibel, so makellos straff, so perfekt fokussiert. Er erinnerte sich an einen der Schneesturmtage im Straflager, als ein Lama an alle Gefangenen imaginäre Bögen ausgehändigt hatte, damit sie stundenlang imaginäre Pfeile verschießen würden, bis niemand mehr sagen konnte, ob er den Bogen oder der Bogen ihn spannte. Nun zog Shan die Sehne zurück und hielt sie fest, während er immer wieder das Tao-Kapitel aufsagte. Er hielt sie so lange, bis es weh tat, bis ihm klar wurde, was er tun mußte, und dann noch länger, bis die Gefahr seines Vorhabens aus seinem Geist verschwand und statt dessen der Bogen ihn spannte. Dann schloß er die Augen und zielte in seiner Vorstellung auf einen Papiervogel.

Kapitel 9
    Der Lastwagen nach Zentraltibet fuhr ab, als vom Tagesanbruch lediglich ein grauer Schimmer am Horizont kündete. Um nicht die verräterisch hellen Scheinwerfer einschalten zu müssen, setzte einer der purbas sich mit einer kleinen Taschenlampe auf die Motorhaube. Shan stand oben zwischen den Felsen und sah dem Fahrzeug hinterher, wie es im Leerlauf den langgezogenen Hang hinunterrollte, langsam den nächsten Grat erklomm und in der endlosen Weite der Changtang verschwand. Dann schulterte er seine Tasche und machte sich auf den Weg.
    Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ihm ein klarer und frischer Tag bevorstand, und so schritt er munter aus und ließ seine Füße wie von selbst den geeigneten Pfad wählen, während seine Augen auf die funkelnden Sterne gerichtet waren. Die Luft schien zu wispern, wenngleich er keinen Wind spürte. Ein Ziegenmelker schrie, und irgendwo zwischen den Felsen vor ihm erschrak ein Tier und floh unter dem schnellen Getrappel kleiner Hufe.
    In seinem Kopf hörte er den Tao-Vers

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