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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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genauso laut und deutlich wie den Ruf des Vogels. Wer weiß, spricht nicht. Wer spricht, weiß nicht. Tante Lau wußte es, aber sie konnte nicht mehr sprechen. Vielleicht hatte auch der tote Amerikaner etwas gewußt, etwas über eine umfassende Verschwörung, die sich bis nach Yutian erstreckte. Die toten Jungen konnten ebenfalls nicht mehr sprechen, und wie er leider vermuten mußte, hatten sie nicht das geringste über den Grund ihrer Ermordung gewußt. Die purbas und Maos waren hingegen gern bereit zu sprechen, aber ihre Worte wurden viel zu oft durch Verbitterung und Haß getrübt.
    Er setzte seinen Weg fort, während über seiner rechten Schulter die Sonne aufging, und vollzog im Geiste die mentale Skizze nach, die er von Jaklis Fahrtroute durchs Gebirge angelegt hatte. Sie war enttäuschend unpräzise. Er hatte am Vortag einen zu großen Teil der Strecke verschlafen. Wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, würde er einfach weiter nach Norden auf den flirrenden Dunst der Wüste zusteuern.
    Er benötigte zwei Stunden bis zur Hauptstraße und dann noch eine Stunde, bis das erste Fahrzeug auftauchte. Schnell sprang er hinter einen Felsen und beobachtete, daß ein Kleinbus vorbeifuhr, dessen Seiten stark verbeult und verschrammt waren, als sei er nur knapp einer Lawine entronnen. Durch die Fenster sah Shan, daß auf allen Passagierplätzen Schafe standen. Eine halbe Stunde später befand er sich mitten in einer steilen Kurve, die um eine hohe Felswand führte, als erneut ein sich näherndes Geräusch zu hören war. Shan zwängte sich in eine Spalte der Wand und sah einen kleinen Wagen vorbeirollen, dessen laut stotternder Motor ölige Rauchschwaden ausstieß. Sobald der Wagen verschwunden war, stieg Shan aus dem Versteck und lief beinahe einem Laster vor die Räder, dessen Ankunft von dem anderen Fahrzeug übertönt worden war. Der Lastwagen kam zum Stehen, und Shan erkannte die eigentümliche Form der Karosserie.
    Er seufzte, setzte sich auf einen Felsen und stellte die Tasche auf seinen Schoß. Jakli schaltete den Motor ab, stieg aus und nahm wortlos neben ihm Platz. Wind kam auf. Ein paar kleine baumwollweiße Wolken trieben über die Gipfel.
    »An besonderen Tagen wie heute, wenn der Himmel so klar und tief ist, daß er wie ein riesiger See aussieht, hört man manchmal Geräusche«, sagte Jakli schließlich. »Ächzen und Grollen, die Klänge der Erde. Als ich noch klein war, sagte mein tibetischer Großvater immer, das seien die Laute der Berge, wenn sie wachsen.«
    Sie beobachteten die Wolken.
    »Ich sagte, wenn sie nur hoch genug wachsen könnten, würde man uns vielleicht einfach in Ruhe lassen.«
    Ein kleiner grauer Vogel landete und sah sie an. »Warum läßt man uns nicht in Ruhe?« fragte Jakli den Vogel und klang auf einmal so müde wie eine alte Frau. Sie reichte Shan ihre Wasserflasche. Er trank und gab sie ihr zurück, wobei er weiterhin verfolgte, wie der Vogel sie beide musterte.
    »Diese Straße«, sagte sie und deutete beiläufig auf die Kurve, »führt nach Norden, aus Tibet heraus. Nicht nach Nepal, sondern bloß zurück nach Xinjiang.«
    Shan nickte. »Mir bleiben acht Tage, um zur nepalesischen Grenze zu kommen. Und vorher gehe ich noch einmal nach Xinjiang«, sagte er leise, um den Vogel nicht zu erschrecken.
    »Ihnen bleiben zwei Tage«, berichtigte Jakli ihn. »Danach könnte kein Fahrzeug Sie noch rechtzeitig dorthin bringen.«
    »Ich gehe nicht weit, nur nach Yutian. Ins Büro von Anklägerin Xu.«
    Jakli dachte über diese Neuigkeit eine ganze Weile nach und seufzte dann. »Falls Sie den Mord an Sui gestehen, um die Kriecher abzulenken«, sagte sie nüchtern, »werde ich mich mitten auf den Marktplatz stellen und behaupten, daß Sie lügen. Ich werde sagen, ich sei die Täterin.«
    Er lächelte sie dankbar an. »Ich würde zwar eine ganze Menge dafür geben, die Kriecher von ihrem Vorhaben abzuhalten«, sagte er, »aber ich bin nicht bereit, die Wahrheit zu opfern.« Ihm war einfach nur klar geworden, wer von all denen, die wußten, aber nicht sprachen, vermutlich die umfassendsten Kenntnisse besaß: die Anklägerin und ihre Akten. »Falls Xu herausgefunden hat, daß Lau eine tibetische Nonne war, würde dadurch viel erklärt«, sagte er. »Zum Beispiel weshalb sie dermaßen strikt reagiert und so viele Verhaftungen vorgenommen hat. Das würde nämlich eine Kampagne gegen die Tibeter bedeuten, nicht gegen Xus traditionelle Zielgruppe.
    Und es würde bedeuten, daß Kaju, der neue

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