Das Auge von Tibet
Lehrer, zu den verdeckten Agenten gehört.«
»Selbst wenn es so wäre, was könnten Sie dagegen tun?«
»Beweise gegen Kaju sammeln und ihn bloßstellen. Dann würden die Kinder sich von ihm fernhalten, auch wenn es uns nicht gelingen sollte, sie alle zu finden. Er müßte seinen Posten verlassen.«
Sie schauten wieder zu den Wolken. Die Sonne kam hervor und ließ die nächstgelegenen schneebedeckten Gipfel so hell erstrahlen, daß es in den Augen weh tat.
Dann stieß Jakli einen lauten Seufzer aus. »Wo Sie hingehen, gehe ich auch hin«, sagte sie und schob sich das vom Wind zerzauste Haar aus der Stirn. »Wir werden eine Möglichkeit finden, daß Sie in zwei Tagen abreisen können.«
»Nein. Sie haben eine Aufgabe; Sie müssen Hüte anfertigen. Falls es Ihnen gelingt, die Fabrik zu erreichen, sind Sie dort zweifellos am sichersten aufgehoben.«
»Die Arbeit gefällt mir nicht. Man hat mich überhaupt nicht gefragt, ob ich in der Stadt arbeiten möchte. Meine Zeit hinter dem Stacheldraht habe ich abgesessen. Jetzt kann man mich nicht auch noch in der Stadt einsperren.« Sie streckte sich und reckte die Hände gen Himmel. »Außerdem werde ich tatsächlich mal kurz in meiner Fabrik vorbeischauen, falls die Patrouillen uns nicht aufhalten. Ich sage hallo und mache ein paar Hüte, nur so zum Spaß.« Sie nahm ihre Tasche und stand auf.
»Das ist zu gefährlich für Sie«, widersprach Shan und erkannte, daß er genau das gleiche zu ihr sagte wie Akzu. »Ich möchte nicht, daß Sie noch tiefer in die Sache verwickelt werden. Sie haben doch schon Pläne für Ihr neues Leben gemacht.«
Jakli schien amüsiert zu sein. »Das könnte ich von Ihnen auch behaupten«, sagte sie mit einem Lächeln und ging zum Lastwagen.
Shan folgte ihr zögernd und stieg auf den Beifahrersitz. »Wenn ich einen Brief schreibe, könnten Sie dann dafür sorgen, daß Lokesh ihn erhält?« fragte er, als Jakli losfuhr. »Ich habe meine Decke mit Säcken ausgestopft, um die purbas zu täuschen. Da hat er bereits geschlafen.«
»Na klar«, sagte Jakli bereitwillig. »Schreiben Sie ihn einfach, und geben Sie ihn mir.«
Shan holte seinen Notizblock hervor und schlug ein leeres Blatt auf. »Er hat keine Adresse, aber die purbas werden wissen, wo er ist«, sagte er.
»Nein, werden sie nicht. Aber ich weiß, wo er ist. Seine Anschrift lautet Kerriya Shankou«, sagte sie.
»Kerriya Shankou?«
Jakli wies auf die zerklüftete, vom Wind gepeitschte Landschaft. »So heißt dieser Paß. Zugang nach Xinjiang. Die Postleitzahl ist unsere Rückbank.«
Shan drehte sich verwirrt um. Die Rückbank war mit einer Plane abgedeckt. Er hob eine Ecke an. Darunter lag Lokesh und schlief.
»Er hat gesagt, es tue ihm leid, und er hoffe, Sie würden es ihm nicht verübeln, daß er Sie mit seiner Decke an der Nase herumgeführt hat. Wie es aussieht, haben Sie alle den purbas einen Streich gespielt.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Shan und sah seinen alten Freund mit resigniertem Lächeln an.
»Die purbas sind noch vor Tagesanbruch abgefahren und dachten, Sie alle würden, wie befohlen, unter den Decken auf der Ladefläche liegen. Aber als ich im Morgengrauen aufgestanden bin, habe ich gehört, wie jemand die schwere Tür auf dem Gipfel der Klippe schloß. Da oben zwischen den Löwenohren gibt es einen flachen Felsen, der Wächterstein genannt wird. Auf ihm saß Gendun. Eine Stunde später kam Bajys und erzählte, er sei vom Lastwagen gesprungen, weil er entdeckt hatte, daß Gendun fehlte.«
»Aber Lokesh sollte doch bei Gendun bleib en«, wandte Shan ein.
»Er hat gesagt, er müsse zu der Schule in Yutian. Falls nötig, würde er sogar den ganzen Weg zu Fuß gehen.« Jakli behielt den Blick auf die Straße gerichtet, aber Shan sah, daß sie lächelte. »Er hat gesagt, er möchte nicht, daß Sie noch tiefer in die Sache verwickelt werden. Es sei ihm wichtig, daß Sie sich in Sicherheit befänden und Ihr neues Leben beginnen könnten.«
»Wieso will er zu der Schule?«
Jakli zuckte die Achseln. »Wegen Lau. Wegen meiner Freundin, der tibetischen Nonne.« Die letzten Worte sprach sie ganz langsam, als müsse sie sich erst an ihren Klang gewöhnen.
Die für den Bezirk Yutian zuständige Dienststelle des Justizministeriums besaß palastartige Ausmaße. Vermutlich war das zweigeschossige Gebäude mit seinem Ziegeldach und den diversen Baikonen tatsächlich einst als Palast errichtet worden, wenngleich schon Anfang des letzten Jahrhunderts, erkannte Shan, der
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