Das Auge von Tibet
auf einer Bank am Marktplatz saß und den Anblick auf sich wirken ließ. Er erinnerte sich an die Halbmondflagge in Osmans Gasthaus. Yutian war früher eine Provinzhauptstadt der Republik Ost-Turkistan gewesen.
Während er dort saß und wartete, beobachtete er einige Stadtbediensteten dabei, wie sie sich langsam die mit Stuck verzierte Mauer entlangarbeiteten, die das Ministerialgebäude umgab und an der mehrere große Anschlagbretter befestigt waren. Die drei in blaue Overalls gekleideten Männer machten sich an einer Reihe von Plakaten zu schaffen, die anscheinend erst seit kurzem dort klebten. Es handelte sich um mindestens zwanzig Exemplare, die alle das gleiche Motiv zeigten: eine rothaarige Frau mit heller Haut und großen runden Augen. Auf einer Seite des Plakats stand jeweils eine Zeile chinesischer Ideogramme, auf der anderen Seite die entsprechenden Worte in den Schriftzeichen der Turksprache. Niya Gazuli, las Shan. Und darunter: Niya ist unsere Mutter.
Die Männer rissen die Poster ab. Manche davon saßen offenbar besonders fest und wurden daraufhin mit einem anderen Plakat überklebt. Ein Herz, viele Körper stand dort in fettgedruckten chinesischen Ideogrammen und ohne turksprachige Übersetzung, gefolgt von: Seid erfolgreich - strebt nach dem Sozialismus chinesischer Prägung. Einer der Männer, der soeben ein solches Poster angebracht hatte, schaute sich nervös nach der Menschenmenge auf dem Platz um, als würde er sich vor etwas oder jemandem fürchten. Shan ließ ebenfalls den Blick über den Platz schweifen. Erschrocken entdeckte er zwei graue Uniformen, zwei Kriecher mit automatischen Waffen, die auf der anderen Seite des Platzes standen und die Plakatkleber beobachteten. Oder vielleicht beschützten.
Bislang hatte er hier noch keine Kriecher gesehen. Nirgendwo wurden Verhaftungen vorgenommen. Sie hatten keine einzige Straßensperre umgehen müssen. Man richtete keine Auffanglager für politisch mißliebige Elemente ein. Die vermeintlich unausweichliche Reaktion auf Suis Ermordung war nicht eingetreten. Zweifellos hatte man die Leiche inzwischen entdeckt. Geier und andere Aasfresser würden schnell entsprechende Aufmerksamkeit erregen. Außerdem war Sui auf dem Weg zu einer Verabredung mit Anklägerin Xu gewesen. Sie hätte ihn als erste vermißt und voraussichtlich seine Leiche gefunden. Aber sie hatte nicht Alarm geschlagen.
Jemand anders nahm auf der Bank Platz, das Gesicht in die entgegengesetzte Richtung gewandt, und stellte eine Plastiktüte zwischen ihnen ab. »Schuhe«, sagte der Mann in lautem Flüsterton. Shan sah ihn unschlüssig an. Der Fremde trug eine purpurrote dopa auf dem dichten schwarzen Schopf, und in seinem Mund blitzten zwei Goldzähne. »Ich heiße Mao«, sagte der Mann wie zur Erklärung. »Der Vogel ist ausgeflogen«, fügte er eilig hinzu. Jakli hatte versprochen, Shan eine Mitteilung zukommen zu lassen, ob der Wagen der Anklägerin irgendwo in der Nähe des Ministerialgebäudes geparkt stand.
Zuerst hatte Jakli den Stadtrand angesteuert und dort bei einem Gelände mit mehreren windschiefen Wellblechschuppen gehalten, vor dem ein ausgefranstes Banner verkündete: Hüte für das Proletariat, Hüte für die Welt. Jakli war hineingelaufen und kurz darauf mit einem weißen Hemd und einer grauen Hose wieder zum Vorschein gekommen. Shan hatte sich schnell im Wagen umgezogen, aber als sie beim Ministerialgebäude eintrafen, bemerkte Jakli seine zerlumpten Schuhe und monierte, er würde sich dadurch verraten. Sie hatte ihn angewiesen, bei der Bank zu warten, und war weggefahren. Jetzt, zwanzig Minuten später, waren neue schwarze Schuhe aufgetaucht. Shan nahm sie aus der Tüte, zog sie statt seiner alten Schuhe an und ging dann, ohne sich noch einmal umzublicken, über die Straße. Er trug einen dicken Umschlag bei sich, wie man ihn auch für eine Akte benutzen würde. Jakli hatte den Umschlag beim Postamt gekauft und eine Zeitung hineingesteckt.
Er betrat eine große zweigeschossige Eingangshalle, aus deren hoher Kuppeldecke zahlreiche Stücke Putz abgebröckelt waren. An einer Seite schwang sich eine elegante Holztreppe zu einer zweiflügeligen Tür nach oben, die von einem verzierten Stuckbogen überwölbt wurde. Im unteren Bereich der Halle waren die Wände vollständig mit den Abbildern strahlender Proletarier bemalt. Die Farbe war rissig und blätterte ab, so daß viele der Gestalten ihre Gesichter und manche sogar ihre Köpfe verloren hatten. Alle ihre Fäuste waren
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