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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gebäudes auf der anderen Seite des Schulhofs hatte sich Flugsand gesammelt. Dahinter lag im Süden das Kunlun-Gebirge und mitten darin Senge Drak. Jakli hatte heute morgen Gendun dort zurückgelassen, hoch oben auf dem Wächterstein.
    Er spürte, daß jemand hinter ihn trat. Schweigend streckte Jakli die Hand aus und nahm das zweite Gedicht ab, das Shan aufgefallen war, das Gedicht über die weisen alten Männer. Sie faltete es zusammen und verstaute es unter ihrem Hemd. Er sah zu, wie sie einen Stuhl vom Tisch holte und die Fotos an der Wand betrachtete. Kurz darauf schob sie den Stuhl an eine bestimmte Stelle, stieg hinauf und nahm ein Foto der Großen Halle des Volkes ab. Mit traurigem Lächeln reichte sie es Shan und stieg wieder herunter. Das Foto war dick und schwer. Er drehte es um. Auf der Rückseite war das Bild eines heiter lächelnden, bebrillten Mannes befestigt, der bereits fast kahlköpfig war und ein rotes Gewand trug. Der Dalai Lama. Mit den Fingernägeln durchtrennte Jakli das Klebeband am Rand des heimlichen Fotos und steckte das Bild ein.
    Plötzlich schaltete jemand das Licht in dem Büro aus. Der Mao mit den Goldzähnen stand an der Tür und deutete stumm zum Fenster hinaus. Aus den Gebäuden strömten zahlreiche Personen auf den Schulhof und reihten sich vor der Wand des gegenüberliegenden Hauses auf. Jakli erstarrte, lief dann zur Wand und preßte sich dagegen, als wolle sie sich verstecken.
    Es waren Kriecher. Sie trieben die Kinder aus den Klassenzimmern. Offenbar hatte man dreißig oder vierzig von ihnen ausgewählt und gemeinsam mit ihren Lehrern vortreten lassen. Während die Lehrer sich in der Tür zum Schulhof duckten, mußten die Schüler sich in einer Reihe vor der Wand aufstellen. Ein Offizier der Kriecher schrie sie an, sie sollten Ruhe geben, während ein anderer mit einer Videokamera dastand und einen Schwenk über die Gesichter der Kinder vollführte. Dann durften die jüngsten, höchstens sieben Jahre alten Schüler zurück zu ihren Lehrern laufen. Einen Augenblick später wurden auch die Älteren wieder entlassen. Danach wandten die Kriecher sich den fünfzehn oder zwanzig Kindern zu, die noch übrig waren. Einer der Männer sprach, und der andere zeichnete alles mit der Kamera auf.
    »Keine Angst«, sagte der Mao. »Verhaltet euch einfach nur ruhig.«
    »Die wissen doch, daß die zheli nicht hier ist«, sagte Jakli.
    »Na klar«, sagte der Mao. »Aber einige der anderen Kinder haben vielleicht eine Ahnung, wie man sie aufspüren kann. Wegen des Armutsprogramms, werden die Kriecher wahrscheinlich behaupten. Die Waisen müssen zu ihrem eigenen Besten zusammengeholt werden. Genau wie die Wildpferde«, schloß er verbittert.
    Shan drehte sich zum Tisch um. Lokesh beobachtete die Kinder erwartungsvoll, als würde er erwägen, selbst zu ihnen zu gehen. Hatte der Mao ihm von dem dritten toten Kind erzählt?
    fragte Shan sich.
    Als hätte sie seine Gedanken gelesen, ging Jakli zum Tisch und nahm gegenüber von Lokesh Platz. Dann legte sie ihm eine Hand auf den Arm und rüttelte behutsam, bis Lokesh sie ansah. »Noch ein Junge«, sagte sie sanft. »In den Bergen ist noch ein Junge ermordet worden.«
    Nachdem sie ihm erklärt hatte, was sie darüber wußte, starrte Lokesh die dorje-Glocke an und verlor sich wieder in seinen Gedanken. Er wirkte unglücklicher als je zuvor. Shan beugte sich zu Jakli. »Der Junge - hat einer seiner Schuhe gefehlt?«
    »Ich weiß es nicht. Ist das wichtig?«
    »Bei den anderen beiden hat jeweils ein Schuh gefehlt.«
    »Was für ein Schuh?«
    Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, irgendein Schuh.« Shan überlegte kurz und erzählte ihr dann von der Holztafel, die Bao gefunden hatte. »Suwan hatte auch so eine. Der Mörder hat sie zerbrochen.«
    Jakli blickte mit neuer Besorgnis auf. Dann erhob sie sich, ging zu dem Bücherregal und nahm das gerahmte Foto eines Pferdes vom obersten Brett. Nein, das war gar kein Rahmen, erkannte Shan, als sie es ihm entgegenstreckte, sondern ein flaches Stück Holz, auf das man vorsichtig das Bild geklebt hatte, um den Eindruck eines Rahmens zu erwecken. Jakli drehte es um, so daß Shan den keilförmigen Einschub auf der Rückseite sehen konnte. Es war eine weitere dieser Tafeln mit der altertümlichen Schrift.
    »Man nennt diese Schrift Kharoshthi. Sie wurde hier vor zweitausend Jahren benutzt. Manchmal gibt der Wüstensand einige dieser Tafeln frei.«
    Shan schilderte Baos Reaktion auf die Tafel. Dann erwähnte er, daß

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