Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
ist zu einem Symbol geworden. Mutter Niya, die uns gelehrt hat, daß die Regierung lügt. Als etwas davon bekannt wurde, haben die Behörden sofort die Untersuchung an sich gerissen.« Sie warf Dr. Najan einen bedeutungsvollen Blick zu. »Seitdem.« Jakli zuckte die Achseln.
    »Wir wissen von zumindest einem Fall«, setzte Najan die Erzählung fort, »in dem die Behörden Mumien beschlagnahmt und verbrannt haben. Mittlerweile wird sämtliche Forschung sehr viel strenger überwacht. Ausländische Teilnehmer sind von vornherein verdächtig. Einige Wissenschaftler aus Kasachstan und Europa haben bei uns Vorträge gehalten und wurden daraufhin von Peking als subversive Elemente verurteilt, die sich angeblich in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen würden.« Bao hatte eine Bezeichnung für derartige Wissenschaftler, erinnerte Shan sich. Sie waren Insekten, die er zu zertreten beabsichtigte.
    »Aber Peking hat kein Recht auf diese Schätze«, warf die Amerikanerin ein. »Wissen ist kein Eigentum. Es gehört weder den Amerikanern noch den Europäern oder Chinesen. Wir nehmen kleine Proben und bringen die Stücke dann in die Wüste zurück, an Orte, die nur den Kasachen und Uiguren bekannt sind.«
    »Sind noch andere in Xinjiang?« fragte Shan und dachte dabei an den Stahlring, den er seit der Nacht im Lager Volksruhm bei sich trug. »Andere amerikanische Wissenschaftler?«
    Warp runzelte die Stirn, als wisse sie nicht genau, was sie darauf antworten sollte. »Wahrscheinlich. Uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Vor ein paar Jahren wurde ein deutscher Akademiker bei einer unbefugten Ausgrabung mit uigurischen Studenten entdeckt. Er ist verschwunden, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört, weder hier noch in Deutschland. Heutzutage ist alles geheim und wird aus Sicherheitsgründen nur noch stückweise weitergegeben. Wir wissen lediglich über unser eigenes Projekt Bescheid«, sagte sie.
    Shan sah sich in dem Labor um und blickte dann zu den beiden Wissenschaftlern. Sowohl der Umfang der Bemühungen als auch das Ausmaß des Risikos flößten ihm Respekt ein. Bao hatte bereits Wind von der Sache bekommen, und falls man die Amerikaner fand, würden sie nicht einfach abgeschoben werden. Sie waren illegal hier, und für die Behörden existierten sie nicht. Bao würde zu dem Schluß gelangen, daß es am besten war, sie verschwinden zu lassen. Wie diesen anderen Amerikaner, den die Kriecher gefangengenommen und ins Lager Volksruhm gebracht hatten.
    Waren sie sich der Gefahr wirklich bewußt? überlegte er. Schaudernd fiel ihm ein, daß sich Einsatzkommandos des Hauptquartiers im Bezirk aufhielten. Wegen einiger toter Jungen oder einer vermißten Lehrerin waren sie bestimmt nicht hergekommen. Sie suchten nach ausländischen Umstürzlern. Sie konnten jederzeit per Hubschrauber hier einschweben jede Stunde, jede Minute. Er betrachtete die resoluten Wissenschaftler, die sich nun wieder an ihre Arbeit begaben. Jakli wußte es. Und Najan wußte es bestimmt auch. Falls die Kriecher aus der Luft angriffen, würden sie Brandbomben einsetzen, speziell gefertigte Sprengsätze, die einem Ort wie diesem sämtlichen Sauerstoff entziehen konnten. Vielleicht machten sie sich auch die Mühe, den ganzen Komplex abzusuchen und jedem einen Kopfschuß zu verpassen. Oder sie versiegelten einfach alle Eingänge und ließen die Menschen hier wesentlich langsamer sterben. Die Kriecher würden sich unter zahlreichen Alternativen entscheiden können, falls sie Sandberg entdeckten, aber keine davon sah vor, daß Gefangene gemacht wurden.
    »Ihr Sohn«, erinnerte Shan sich plötzlich und bedauerte im selben Augenblick, wie deutlich man ihm die Beunruhigung anhören konnte.
    Abigail Deacon sah ihm einen Moment lang schweigend ins Gesicht. »Was ist mit ihm?« fragte sie dann.
    »Ist er hier, im Sandberg?«
    Die Amerikanerin schaute zu Jakli. »Micah ist in Sicherheit. Nicht hier, sondern im Kunlun.«
    »Wie meinen Sie das?« fragte Shan.
    »Er ist bei einigen Hirten untergebracht. Lau hat es in die Wege geleitet, als wäre er eines ihrer Waisenkinder. Bei einer der Grenzfamilien. Lau hat sie Schattenclans genannt. Sie sagte, er würde nirgendwo sicherer sein.«
    »Die zheli ?« stieß Jakli erschrocken hervor. »Euer Sohn ist bei der zheli ?«
    Abigail Deacon wußte noch nichts von den Vorfällen, erkannte Shan bestürzt, als er den fragenden Blick der Frau bemerkte. Sie hatte ihren Sohn in die Sicherheit der Berge geschickt. Doch nun stand der

Weitere Kostenlose Bücher