Das Auge von Tibet
sein dünner Bart. Seine Handgelenke wurden durch ein geflochtenes Band aus vielfarbigem Garn zusammengehalten, so daß die langen, zarten Finger in einer demütigen Geste verharrten. Er trug ein dickes Wollhemd, dessen Ärmelaufschläge Shan an den Stoffstreifen erinnerten, den er in dem Labor gesehen hatte. An den Füßen des Toten steckten Stiefel aus dünnem Leder, eventuell Hirschleder, gefolgt von kniehohen Filzgamaschen.
Shan wollte eigentlich wieder gehen, um nicht entdeckt zu werden und die Mumien nicht länger zu stören, doch irgend etwas hielt ihn zurück. Er sank neben dem bärtigen Mann auf die Knie und berührte langsam und zögernd den Ärmel des Toten. Womöglich gehörte der Fremde zu den Erbauern von Karatschuk, dachte Shan, seltsam aufgewühlt. Vielleicht hatte er einst eine Aprikose gepflückt und sie dann im Schatten des liegenden Buddhas verzehrt. Die heitere Miene des Mannes schien große Weisheit in sich zu bergen, und aus irgendeinem Grund fühlte Shan sich aufgefordert, diese Weisheit zu erforschen.
Er wußte nicht, wie lange er dort kniete und versonnen die Toten musterte. Irgendwann roch er Zigarettenrauch. Er hob den Kopf und sah Dr. Najan.
»Sie haben unsere stillen Partner kennengelernt«, stellte Najan ruhig fest.
»Wie ist das möglich? Wo.«
»Der Verlauf der früheren Flüsse ist auch heute noch weithin bekannt, und da alle alten Siedlungen an Flußufern lagen, suchen wir vornehmlich dort. Die ältesten Grabstätten sind leicht zu identifizieren, weil sie sich stets im Innern einer runden Palisade befinden, die einer kleinen Festung gleicht. Durch einen großen Sturm kommt manchmal ein solcher Kreis aus Pfählen zum Vorschein. Es gibt ein paar alte wüstenerfahrene Kasachen und Uiguren, die keine Angst haben, in der Wüste ein Nachtlager aufzuschlagen.«
»Und anhand dieser drei Mumien haben Sie so viele Erkenntnisse gewonnen?«
»Drei? Das hier sind nur die Neuzugänge, die durch den karaburan freigelegt wurden. Mehr als fünfzig haben wir bereits untersucht. Und weitere dreißig liegen vorerst noch an ihren Fundorten.«
»Hier sind fünfzig Mumien?«
»Wir nehmen unsere Proben, machen Fotos und fertigen Videoaufzeichnungen an, und dann werden die Toten wieder zur Ruhe gebettet. Falls wir den Eindruck haben, die ursprüngliche Stätte könnte durch Plünderer bedroht sein, bestatten wir die Leichen an neuen, geheimen Orten.« Der Wissenschaftler schaute auf die drei Mumien herab, und Shan sah, daß in seinem Blick ein merkwürdig trauriger Stolz lag. »Wir verlesen dann jedesmal einige Worte, um uns bei ihnen für die Störung ihres Friedens zu entschuldigen und sie wissen zu lassen, daß sie nicht in Vergessenheit geraten werden.«
Shan erinnerte sich an Deacons Spritzen. »Sie untersuchen nicht nur die Kleidung. Sie nehmen auch Gewebeproben.«
»Wann immer es geht. Nur ein winziges Stück Zellgewebe, das wir dann an Laboratorien in den Vereinigten Staaten und der Schweiz schicken, die uns insgeheim helfen. Wir benötigen eine statistisch aussagekräftige Anzahl DNS-Daten.« Dr. Najan ging in die Hocke und lehnte sich gegen die Wand. Sein Blick fiel auf den männlichen Leichnam, den Shan ausgewickelt hatte. Auch Najan verspürte die sonderbare Anziehungskraft. »Wir glauben nicht, daß es sie stören würde. Beim erstenmal war ein Kasache hier, einer der Nachfahren der Leute aus Karatschuk. Er ging allein hinein, während sein grauer Hund draußen Wache hielt. Dann hat er mit den Toten gesprochen und ihnen alles erklärt. Hinterher sagte er, die Alten seien stolz, uns behilflich sein zu können.«
Shan lächelte. Er wußte, wer mit den Toten gesprochen hatte. Osman.
»Was Sie tun, ist so gefährlich«, sagte Shan nach einer Weile. »Man würde Sie einen Verräter nennen und behaupten, Sie hätten sich mit Ausländern verschworen, um den Staat zu unterwandern. Haben Sie denn keine Familie?«
Der Wissenschaftler lächelte traurig. »Ich stamme aus einem uigurischen Clan. Als ich noch klein war, hatte ich Onkel, viele Onkel. Ich habe sie und all meine Tanten und deren Kinder sehr geliebt. Meine Onkel setzten sich oft ans Feuer, tranken kumys und erzählten Geschichten des Clans, die bis in die Zeit der großen Khane zurückreichten. An Festtagen ritten wir schnelle Pferde und hielten Zeremonien ab, wie es sie schon seit tausend Jahren gab. Sie haben mir beigebracht, wie die Schutzgeister der Tiere heißen und wie man ihre Adler halten muß.«
»Adler?«
»Jagdadler.
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