Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Mein Clan war berühmt für seine abgerichteten Adler. Sie wurden vom Nestlingsalter an großgezogen und gehörten zur Familie.« Der Uigure nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Aber jetzt gibt es keine Onkel und Tanten mehr. Ich habe nur ein Kind, weil die Regierung es nicht anders erlaubt. Auch meiner Tochter wird man nur ein einziges Kind gestatten. Ohne Brüder und Schwestern kann es aber weder Onkel noch Tanten geben und auch keine Cousins oder Cousinen. Die Festtage sind nicht mehr wie früher, und einige hat man schon völlig vergessen. Meine Onkel sind tot. Es gibt keine Jagdadler mehr. Niemand erinnert sich noch an all die Geschichten. Vielleicht tue ich das alles ihretwegen.« Er zog an seiner Zigarette und nickte dann in Richtung der bärtigen Mumie. »Dieser Mann war bestimmt der Onkel von jemandem.«
    Gemeinsam gingen sie durch den Tunnel zurück. Najan zeigte Shan eine zweite Reihe Zellen, in denen ein weiteres Dutzend Mumien lag. Man hatte sie nach ihrem Alter angeordnet. Einige stammten von einer zweitausend Jahre alten Begräbnisstätte, andere aus einer noch früheren Epoche. Oftmals handelte es sich nicht mehr um vollständige Körper, sondern nur noch um Teile der Toten, weil die Stürme und der Lauf der Zeit ihren Tribut gefordert hatten. Die Zelle, in der Shan und Najan anfangs gesessen hatten, enthielt die Leichen einer bekannten tibetischen Garnisonsstadt aus der Zeit der ersten nachchristlichen Jahrtausendwende.
    »Zuerst hatte ich Angst«, gestand der Uigure. »Jetzt gehe ich manchmal dorthin und setze mich einfach zu ihnen. Ich weiß, daß die Menschen, die dort liegen, nichts dagegen hätten.«
    »Wissen Sie etwas über die alten Tafeln?« fragte Shan nach einem Moment.
    Dr. Najan legte die Handflächen horizontal zusammen und zog sie dann auseinander, als würde er eine der Holztafeln öffnen. »Die Kharoshthi-Texte? Sie wurden zum erstenmal vor etwa hundert Jahren durch einen europäischen Archäologen entdeckt, der in den Ruinen von Niya gearbeitet hat. Wir haben Hunderte hier gefunden, in einer der Zellen.«
    »Die Öffentliche Sicherheit hat von den Tafeln erfahren«, sagte Shan.
    Der uigurische Wissenschaftler zuckte die Achseln. »Das war nur eine Frage der Zeit.«
    »Die Kriecher suchen nach einer Spur zu der Quelle, um die vermeintlichen Rebellen zu erwischen, die mit den Ausländern gemeinsame Sache machen. Major Bao glaubt, daß Lau dabei eines der Bindeglieder dargestellt hat.«
    »Aber Lau hat ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen.«
    Außer während der letzten Minuten ihres Lebens, als sie -benebelt durch Drogen und Schmerzen - zweifellos etwas preisgegeben hat, dachte Shan verbittert. Er war sich nun sicherer als je zuvor, das Geheimnis zu kennen, das der Mörder ihr entlocken wollte. Bao befand sich offenbar auf einer unbarmherzigen und blutigen Treibjagd, um die Dissidenten und ihre ausländischen Kollaborateure zu stellen. Und falls das zutraf, hatte Bao es nicht auf die gesamte zheli , sondern nur auf die Jungen abgesehen, die er einen nach dem anderen aufspürte und tötete, bis er den Jungen namens Micah fand, durch den er an die Amerikaner heranzukommen gedachte.
    »Bao hat das Institut für Altertümer erwähnt.«
    Najan lächelte freudlos und trat die Zigarette aus. »Die haben einmal versucht, mich anzuwerben. Ich sollte der Welt beweisen, daß die Kharoshthi-Schrift in Wahrheit auf einer alten chinesischen Form basiert. Das sind keine Wissenschaftler, sondern Propagandisten, deren einziges Ziel darin besteht, die Mythen zu nähren. Sie behaupten den Zeitungen gegenüber, Niya Gazuli sei eine Fälschung ausländischer Staatsfeinde. Falls sie sich eine Chance auf Erfolg ausrechnen könnten, würden sie sogar zu beweisen versuchen, daß die Höhlenmenschen in Afrika mit Stäbchen gegessen haben.« Er schüttelte betrübt den Kopf und ging in Richtung des Labors davon.
    Als Shan zurückkehrte, hatten die tausendjährigen Buddhisten einen neuen Besucher. Lokesh saß dort, hatte mehrere Lampen mitgebracht und alle drei Gesichter freigelegt. Er sagte ein Mantra auf, ein Gebet für die Seelen, wie Shan zunächst glaubte, bis er den freudigen Blick seines Freundes bemerkte. Es war eine Feier, keine Klage.
    Shan nahm dem alten Tibeter gegenüber Platz, so daß die Mumie des Mannes mit dem dunkelroten Bart zwischen ihnen lag. Der Tote trug an einer Kette ein gau um den Hals, das nun auf seiner Brust ruhte. Zudem war er mit einer dicken Weste bekleidet, aus deren

Weitere Kostenlose Bücher