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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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schüttelte den Kopf. »Tausend vor Christus. Aus der Zeit Ihrer Shang-Dynastie.«
    Shan sah sie ungläubig an.
    »Der Sand. Die Trockenheit. Genau wie in Ägypten«, betonte sie, nahm eine andere Probe und zeigte Shan die raffiniert gewebten Abbilder verschiedenfarbiger Schafe. »Vom Saum eines Gewandes«, erklärte sie.
    »Aber das sollte gefeiert werden«, sagte Shan. »Ich habe noch nie gehört, daß...«:Er hielt irritiert inne, weil Jakli und die Amerikanerin einen traurigen Blick austauschten.
    »Diese Textilien und die anderen Proben, die uns vorliegen, decken eine Zeitspanne von mehr als zweitausend Jahren ab«, fuhr Abigail Deacon fort. »Sie haben nichts mit den Gebieten östlich von hier gemeinsam. Viele der Muster kommen aus Persien und sogar Mazedonien. Und das hier.« Warp deutete auf einen blau, gelb und braun karierten Stoff. »Dieses Gewebe paßt genau zu den Resten, die in Salzgruben des heutigen Österreichs gefunden wurden und von Vorfahren der Kelten stammen.«
    »Dr. Najan«, sagte sie und nickte dem Mann am Mikroskop zu, »ist früher für das Museum in Urumchi tätig gewesen. Er hat das Webmuster einiger Stücke analysiert und kann Ihnen genau sagen, wie die entsprechenden Webstühle ausgesehen haben. Es waren primitive Geräte, wie man sie heute noch in der Türkei und Afghanistan benutzt.« Ihre Augen funkelten herausfordernd.
    »Die Beweise sind unwiderlegbar. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wird uns genug Material für fünf Bände zur Verfügung stehen.«
    In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan. In den Werkstätten der Partei entstanden Geschichtsbücher, die dieses Flickwerk für rechtens erklärten und behaupteten, die Annexion der gewaltigen Landstriche Xinjiangs und Tibets habe aus politischer Notwendigkeit erfolgen müssen, weil die einheimische Bevölkerung schon immer ein Teil des chinesischen Volkes gewesen sei. Alle paar Monate wurden in den Zeitungen neue, von der Partei finanzierte Forschungsergebnisse publiziert, nach denen die Chinesen und Tibeter oder auch die Chinesen und die Nomaden Xinjiangs gemeinsame Wurzeln besaßen. Ein Lieblingsprojekt der Parteibonzen war die Langzeituntersuchung des chinesischen Genoms, die den wissenschaftlichen Beweis liefern sollte, daß die Tibeter und auch alle anderen Minderheiten sämtlich von den Han-Chinesen abstammten. Shan wußte von der Existenz derartiger Studien und hatte sogar einige der in Peking damit betrauten Wissenschaftler gekannt, weil manche dieser Leute auch für die Gerichtsmedizin tätig waren. An erster Stelle stand die Doktrin, und jede Form von Wissenschaft mußte sich ihr anpassen. Seine eigene Tätigkeit in Peking hatte ähnlichen Beschränkungen unterlegen, und bei jedem Fall war ihm ein politischer Mentor zugewiesen worden. Falls ein Ermittler sich über die Doktrin hinwegsetzte, konnte es ihm passieren, daß er genau jener Verbrechen angeklagt wurde, die er eigentlich untersuchen sollte.
    Abigail Deacon schien Shans Gedanken zu lesen. »Die Parteiwissenschaftler haben mit großem Tamtam verkündet, daß Tibeter und Han-Chinesen genetisch zu 99,9 Prozent übereinstimmen«, sagte sie mit säuerlichem Lächeln. »Die Kasachen und Uiguren im Vergleich zu den Han übrigens ebenfalls. Was sie leider verschwiegen haben, ist die Tatsache, daß auch Han-Chinesen und Nigerianer, Amazonas-Indios oder schottische Highlander genetisch zu 99,9 Prozent übereinstimmen, weil wir nämlich zufällig alle derselben Spezies angehören.«
    Shan sah schweigend von Abigail Deacon zu Jakli und dann zu Dr. Najan, der ihn inzwischen trotzig musterte. Dann hob er anerkennend seine Teetasse. »Diese Frau«, sagte er und dachte an den Marktplatz von Yutian zurück, »diese Frau auf den Plakaten. Niya.«
    »Niya Gazuli?« fragte Jakli. »Übersetzt heißt es die Schönheit aus Niya, denn in den Ruinen des antiken Niya wurde sie entdeckt. In der Wüste, ungefähr dreihundert Kilometer von hier entfernt. Nachdem ein Sturm eine Grabstätte freigelegt hatte, fand man dort ihre mumifizierten Überreste. Dr. Najan hat zu dem Bergungsteam gehört. Sie ist mindestens zweieinhalbtausend Jahre alt. Rotes Haar. Ein Gewand, das mit den Abbildungen von Pferden und Vögeln verziert ist. Und ohne einen Tropfen chinesisches Blut in den Adern. Sie

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