Das Auge von Tibet
amerikanische Junge auf der Todesliste der zheli .
Kapitel 11
Shan hob die Hand an die linke Schläfe, wo erneut ein langsam pochender Schmerz eingesetzt hatte. Noch bevor er etwas sagen konnte, nahm Jakli seinen Arm und zog ihn nach draußen, zurück zu seinem Ruhelager.
»Sie müssen es erfahren. Ihr Sohn ist in großer Gefahr«, sagte er leicht benommen, während Jakli ihn durch den Tunnel führte.
»Die Leute, bei denen er untergebracht ist, sind wachsam wie Leoparden. Niemand sieht sie, es sei denn, sie wollen gesehen werden«, sagte sie, schien jedoch selbst nicht davon überzeugt zu sein. Sie gab ihm mehr Wasser, entzündete die kleine Lampe neben seinem Lager und ließ ihn allein, damit er zu schlafen versuchte.
Er schlief tatsächlich, wenngleich nicht lange. Geräusche im Tunnel ließen ihn endgültig aufwachen. Der Kopfschmerz war nicht verschwunden, hatte aber merklich nachgelassen. Er nahm die Tonlampe und stand auf, lauschte dann eine Weile den Geräuschen und stellte die Lampe wieder ab. Einige Stimmen unterhielten sich in der Sprache der Clans. Shan konnte die Worte nicht verstehen, aber sie klangen nervös und hektisch, als gäbe es etwas Dringendes zu erledigen.
Vorsichtig tastete Shan sich einige Schritte vor und spähte um die Kante des Zugangs in den Tunnel. Er sah einen Mann mit der für die Hirten typischen Wollweste und Mütze, der eine helle Kerosinlampe hielt. Zwei andere, ebenso gekleidete Männer trugen ein langes schmales Bündel in eine der Meditationszellen und gingen dabei sehr sachte damit um, als könnte es zerbrechen.
Gleich darauf kamen sie ohne ihr Bündel wieder zum Vorschein und liefen den Gang hinunter. Shan wollte schon nachsehen, worum es sich handelte, als ein weiteres Licht erschien. Es waren Jacob Deacon, der eine Arzttasche bei sich hatte, und Dr. Najan, der noch immer seinen Laborkittel trug und mit einer leistungsstarken Taschenlampe ihren Weg beleuchtete. Die beiden sprachen leise miteinander und betraten die Zelle. Shan schlich sich dicht an der Wand voran, um besser erkennen zu können, was vor sich ging. Deacon kniete mit einer großen Spritze neben dem in eine Decke gehüllten Bündel, das die Hirten dort zurückgelassen hatten. Durch eine Öffnung in der Decke stach er die Nadel ein und ließ sich von Najan eine zweite Spritze reichen, mit der er ebenso verfuhr. Dann standen die beiden Männer auf und kehrten eilig wieder in den dunklen Tunnel zurück.
Shan begriff, daß dort vor ihm eine Person lag, die offenbar krank und von dem Amerikaner behandelt worden war. Er wartete fünf Minuten, holte dann seine Lampe und kehrte zum Eingang der Zelle zurück. Es war derselbe Raum, in dem er zuvor schon zwei schlafende Gestalten gesehen hatte. Waren sie alle krank oder vielleicht wie Shan während des karaburan verletzt worden? Er betrat den Raum und sah die drei Bündel am Boden.
Ein jedes war in eine Decke gewickelt und besaß als Kissen eine kleine Filzrolle. Außerdem hatte man über jede der Decken einen bestickten Schal gebreitet und sorgfältig glattgestrichen, so daß die Bilder der springenden Pferde und großen Bäume deutlich zur Geltung kamen. Shan wollte die Schläfer nicht wecken, und so näherte er sich der ersten Gestalt besonders leise. Dann erstarrte er. Das Gesicht war auf furchtbare Weise verstümmelt. Der Mann hatte keine Nase. Mit zitternder Hand hielt Shan die Lampe direkt neben den Kopf. Und auch keine Augen. Dann erkannte Shan, daß der Fremde schon seit vielen Jahrhunderten nichts mehr gesehen hatte. Er war zu einer Mumie vertrocknet. Der Sand und die Dürre sorgten für eine gute Konservierung, hatte Abigail Deacon gesagt. Shan hatte geglaubt, sie würde sich lediglich auf Textilien beziehen.
Behutsam zog er die Decke beiseite, erblickte darunter einen braunen Stoff und verstand, wie Warp an die Kleidungsproben kam. Es waren die Bestattungsgewänder der Mumien der Takla Makan.
Nach dem ersten Schreck verspürte Shan weder Angst noch Abscheu, sondern betrachtete auch die anderen beiden Gestalten, eine Frau mit zwei langen braunen Zöpfen, deren Frisur der von Niya Gazuli ähnelte, und einen Mann, der so vollständig und gut erhalten war, daß er im trüben Licht wirklich nur zu schlafen schien. Der Fremde war außergewöhnlich, ein Besucher aus einer längst vergangenen Welt. Sein Gesicht, obwohl von ledriger Beschaffenheit, war auffallend hell, und das dichte, lange dunkle Haar besaß einen ausgeprägt rötlichen Farbton, genau wie
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