Das Auge von Tibet
kleiner Tasche ein Kelch ragte, den man aus einem Kuhhorn gefertigt hatte.
Lokesh blickte mit breitem Grinsen auf. »Er hat tausend Jahre darauf gewartet, uns zu treffen.«
Shan wollte darauf hinweisen, daß die Seele des Mannes längst entschwunden war, aber dann wurde ihm klar, daß sein Freund dies natürlich wußte. Es ging nicht darum, drei Seelen Hochachtung zu bezeigen, die nach dem Verlassen dieser zerbrechlichen Körper vielleicht schon zwanzig weitere Reinkarnationen durchlaufen hatten. Aber diese Leute wirkten so real. Falls der Mann sich in diesem Moment auf seiner Decke aufgesetzt hätte, wäre Shan nicht davongerannt, sondern hätte dem Fremden die Hand reichen wollen.
»Sieh nur, Xiao Shan«, sagte Lokesh aufgeregt und hob die Decke vom Bauch der Mumie. »Ich kenne ihn.«
Shan sah seinen Freund unsicher an und schaute dann wieder zu der Mumie. »Wie meinst du das?«
»Ich meine, ich weiß, daß er gute Taten vollbracht hat. Er hat gelitten und störte sich nicht daran. Er war ein Mann, der verstanden hat, was auch wir verstehen. Sieh nur.«
Da erkannte Shan, daß um eines der mumifizierten Handgelenke eine Gebetskette lag. Eine buddhistische mala . Lokesh zog die Decke weiter herunter und deutete auf zwei dicke rechteckige Gegenstände mit rissigen Lederriemen, die neben den Hüften des Mannes lagen, so daß er sie mit ausgestreckten Armen erreichen konnte. Es waren Handblöcke, wie sie von Pilgern benutzt wurden, glatte Holzklötze mit Lederriemen, in die ein Pilger seine Hände steckte, um sie vor Verletzungen zu schützen, während er sich zehntausendmal am Tag bäuchlings zu Boden warf. Shan hatte identische Blöcke schon häufig bei Pilgern auf Tibets Straßen und auch entlang der heiligen Lingkhor-Strecke in Lhasa gesehen. Aus stehender Position sanken diese Menschen zunächst in die Knie, legten dann die Hände auf den Boden und streckten sich der Länge nach aus, um gleichzeitig ein Mantra zu rezitieren. Dann standen sie auf, traten einen Schritt vor und wiederholten die Prozedur.
»Auf den Klötzen steht etwas geschrieben, und zwar in alten tibetischen Buchstaben. Ich habe es gelesen. Es erzählt seine Geschichte. Dieser Mann.« Lokesh hielt kurz inne und schien beinahe von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. »Dieser Mann war unterwegs zum Berg Kailas«, fuhr er fort und bezog sich damit auf den heiligsten Ort in Tibet, den Vater Berg am Rand des Himalaja. Erster aller Berge nannten die Tibeter ihn. »Er wollte den Berg als demütiger Pilger einmal ganz umrunden und dann die Blöcke dort zurücklassen, und zwar als Opfer an die Geister seiner Tochter, die bei einem Sturz vom Pferd gestorben war, und seiner Frau, die bei der Geburt dieser Tochter das Leben verloren hatte.«
Der alte Tibeter sah Shan an und seufzte. Irgend etwas war geschehen und hatte den Mann viele hundert Kilometer vor seinem Ziel aufgehalten. »Er war schon weit gekommen«, sagte Lokesh bewundernd. »Dort steht, er stammte aus Loulan, aus einer der alten untergegangenen Städte am östlichen Rand der Wüste. Er hat fast die Hälfte des Weges geschafft.«
Vielleicht ist er durch einen Sandsturm oder die bittere Kälte der winterlichen Wüste umgekommen, dachte Shan. Vielleicht aber auch durch den Pfeil eines Banditen. Oder durch dnen chinesischen Soldaten.
Schweigend und ehrfürchtig saßen sie einige Minuten da, während derer Lokesh bisweilen tief seufzte.
»Spürst du es, mein Freund?« fragte der Tibeter. »Ein Teil von mir fühlt sich dadurch so lebendig wie noch nie zuvor.« Der alte Mann schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Es ist, als hätten sie sich bei ihrer Beerdigung gefragt, ob die Welt überleben und es auch weiterhin Leute wie sie geben würde. Trotz all der Kriege, Hungersnöte, Sandstürme und Verfolgungen. Und jetzt sind sie herausgekommen, um sich davon zu überzeugen.«
Sie schwiegen wieder, seltsam vereint mit dem tausend Jahre alten Buddhisten, und dann schien Lokesh ein bestimmter Gedanke zu kommen. Er wurde ganz ernst und blickte auf. »Falls ich es wüßte.«, sagte er feierlich. »Falls ich wüßte, daß mich in tausend Jahren ein anderer Mensch auf diese Weise erreichen und berühren könnte, als wäre ich ein Glied in der Kette der Seelengüte, würde ich mich in diesem Augenblick niederlegen und sterben.«
Shan erinnerte sich an Lokeshs Worte in Senge Drak. Vielleicht existierten Menschen nur deshalb, um die Tugend am Leben zu erhalten und an jemand anderen
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