Das Auge von Tibet
dem silbernen Wasser aufstieg. Manchmal beschrieb ich auch einfach nur den Weg zum Meer. Dann falteten wir aus dem Papier kleine Boote und ließen sie mitten zwischen die Entenschwärme treiben.«
Sie betrachteten die Sterne. Nach ein paar Minuten deutete Marco mit ausgestrecktem Finger auf einige Sternbilder und forderte die Amerikaner heraus, ihm die englischen Namen zu verraten. Den Nördlichen Scheffel erkannten sie sofort als Großen Bären und den Weißen Tiger als Sternbild des Orion. Heiter setzten sie ihr Spiel fort. Die Arkaden erwiesen sich als Cassiopeia und der Azurdrache als Sagittarius.
Lokesh verließ die Gruppe, setzte sich sechs oder sieben Meter entfernt in den Sand und sah hinaus in die Dunkelheit. Er schien nach etwas Ausschau zu halten. Shan überlegte kurz und bedachte die Position des kleinen Berges, an dessen Fuß sie saßen. Sein Freund starrte in Richtung des Tränenbrunnens. Lokesh hatte die verlorenen Seelen dort gehört.
»Xu hat eine Akte über Amerikaner«, sagte Shan plötzlich. Er wollte den anderen nicht die Stimmung verderben, aber er mußte darüber sprechen. Alle schienen zu erstarren und wandten sich dann aufmerksam ihm zu. »Eine Liste diverser Besuchergruppen.« Er sah Abigail Deacon an. »Sie hat Ihren Namen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe einer Delegation angehört. Einer Gruppe von Professoren, die sich die Ruinen einiger Marktflecken entlang der alten Seidenstraße anschauen wollte. Sie haben es als Marco-Polo-Tour bezeichnet.«
»Aber nur ein einziger Name auf der Liste war eingekreist. Ihrer.«
Die Amerikanerin sah ihn unsicher und beinahe verärgert an, als würde Shan sie eines Vergehens beschuldigen.
»Dafür könnte es ein Dutzend Gründe geben, Warp«, sagte ihr Mann. »Dein Flug hatte Verspätung.«
»Stimmt«, bestätigte Dr. Najan. »Man mußte extra einen Wagen organisieren, um Sie der Gruppe hinterherzufahren. Der Tag, an dem Sie uns eingeholt haben, war unser erstes Zusammentreffen. Warp wollte immerzu Dinge tun, die nicht auf dem Reiseplan standen. Sie hat um einen Führer gebeten, der sie zu einigen der alten Wachtürme auf den Bergen bringen sollte. Und auch beim Essen hatte sie Sonderwünsche.« Er bedachte Shan mit einem tadelnden Blick. »Also hat man den Namen eingekreist. Es gab jede Menge Gründe dafür.«
»Jede Menge Gründe«, wiederholte Shan ausdruckslos. Gute Gründe. Und schlechte Gründe. Er musterte die Gruppe, die hier in diesem kleinen Außenposten lebte. So weitab vom Rest der Welt, so versunken in die großartigen Erkenntnisse ihrer Wissenschaft, würde es leicht sein, die schlechten Gründe zu vergessen. Die Gründe der Öffentlichen Sicherheit. Die Gründe des Justizministeriums.
»Der Täter hat sich längst irgendwo versteckt«, sagte Marco. »Er weiß, daß die Kriecher durch den Mord an Sui wie wütende Hornissen aufgescheucht werden.«
»Nein«, widersprach Shan und holte aus seiner Tasche die Namenliste hervor, die Jakli in Laus Büro gefunden hatte. »Er hat einen dritten Jungen getötet«, rief er den anderen ins Gedächtnis. »Er geht nach einem Plan vor.« Shan reichte das Blatt an Deacon weiter, der eine winzige Taschenlampe zum Vorschein brachte. Seine Frau hielt den Zettel, während Deacon für Licht sorgte und die anderen sich rund um ihn versammelten.
»Dreiundzwanzig Namen«, erklärte Shan. »Die zheli . Das hier ist die offizielle Teilnehmerliste aus den Schulunterlagen. Jeder hat Zugriff darauf. Falls man wollte, könnte man sie sich aus einem Regierungscomputer in Urumchi, Lhasa oder Peking ausdrucken. Elf Mädchen. Zwölf Jungen, von denen neun noch am Leben sind. Erst Suwan..« Shan deutete auf die Mitte der Liste, dann auf zwei andere Einträge. »Alta und Kublai.«
»Aber dahinter liegt keine Logik, aus der man Rückschlüsse auf das Verhalten des Mörders ziehen könnte«, sagte Marco.
»Irrtum.« Shan zog einen Bleistift aus der Tasche, griff nach dem Zettel und reichte beides an Jakli weiter. »Bitte streichen Sie die Mädchen aus«, sagte er.
Sie überflog die Liste und strich zügig elf der Namen durch.
»Dann Suwan«, sagte Shan, und sie kreuzte den Namen des Jungen an. »Und der Junge, der bei der dropka -Familie gelebt hat.« Jakli nahm eine weitere Markierung vor. »Und schließlich Kublai.« Sie machte das dritte Kreuz und gab den Zettel der Amerikanerin zurück.
Das erste Kreuz stand in der Mitte der Seite. Die nächsten beiden befanden sich neben den obersten zwei
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