Das Auge von Tibet
Hause sind, wird Micah wahrscheinlich ein ganzes Zimmer voller Insekten haben.«
»Nicht die schlechteste Gesellschaft. Sie sind klüger als Fische«, spöttelte Deacon. »Und sie bringen Glück.«
Seine Frau lachte leise. »Mein Vater hat einen Sommer lang ebenfalls Grillen gehalten, um sie als Angelköder zu benutzen«, erzählte sie. Deacon schien die Geschichte bereits zu kennen und legte Warp sanft die Hände vor den Mund, doch sie schob sie spielerisch beiseite. »Meine Mutter hat die Tiere gehaßt, aber er durfte sie trotzdem behalten, solange er sie nicht ins Haus mitbrachte. Eines Tages hat er eine Dose Grillen im Schlafzimmer abgestellt, um schnell unter die Dusche zu hüpfen, und die Tiere dann vergessen. Ein paar Tage später zieht er morgens seine Unterwäsche an, und sie fällt praktisch auseinander. Die Grillen hatten jede einzelne Hose durchlöchert. Er hat nie darüber gesprochen. Aber er hat noch am selben Tag alle Grillen wieder freigelassen.«
»Siehst du?« sagte Marco. »Die Tiere haben tatsächlich Glück gebracht. Vor allem deiner Mutter.«
Sie alle lachten, sogar Shan. Marco berichtete, daß ein zahmes Eichhörnchen sich ein Nest im letzten noch aus Rußland stammenden Kleid seiner Mutter gebaut hatte, und sie lachten wieder. Dann schilderte Jakli, daß Nikki einst eine Albinomaus für sie gefangen hatte. Als er in ihr Lager kam, waren in seiner Tasche unterdessen fünf winzige rosafarbene Mausbabys zur Welt gekommen. Dr. Najan erzählte von einem Pfeifhasen, der immer die Knöpfe von den Kleidern seiner Mutter abgenagt und als Schätze in seinen Käfig mitgenommen hatte.
Während Shan zuhörte, bildete sich ein kleiner Kloß in seinem Hals, und das Herz wurde ihm schwer. Woran lag es? Die anderen waren fröhlich, und er freute sich für sie. Aber da war noch etwas. Etwas von dem, was sie taten, hatte eine Stelle in seinem Innern berührt, einen leeren Platz, eine weitere jener Kammern, die schon so lange nicht mehr bewohnt waren, daß er vergessen hatte, wie man sie öffnete. Doch einst war dieser Ort nicht leer gewesen, sondern sogar übervoll. Schließlich wurde ihm mit jähem Schmerz klar, worum es sich handelte. Es ging um Familie, um die Art, wie die anderen freimütig erzählten und bereitwillig lachten, die Art, auf die Marco, die Amerikaner und sogar Jakli miteinander umgingen und sich ihre kleinen persönlichen Geschichten anvertrauten. Vor langer Zeit war es zwischen Shan und seinen Eltern genauso gewesen, doch zu seiner Frau oder gar zu seinem Sohn hatte nie ein derart inniges Verhältnis bestanden.
»Wie steht's mit Ihnen, Inspektor?« fragte Marco vergnügt. »Haben Sie je ein Haustier gehabt?«
Shan brauchte einen Moment, bis er begriff, daß der eluosi mit ihm sprach. Er schaute hinaus auf die Dünen, die im Abendschatten wie die Wogen eines Ozeans aussahen.
»Nein, kein Haustier«, hörte er sich leise antworten. »Im China meiner Kindheit gab es schon für uns selbst nie genug zu essen, und ein Tier hätte das nicht überlebt. Aber als ich noch klein war, sind mein Vater und ich oft zum Fluß gegangen und haben beobachtet, wie die Welt an uns vorüberzog. Im Herbst kamen die Bauern von tief aus dem Landesinnern und brachten Enten zum Markt. Sie stutzten den Tieren die Flügel und trieben sie wie riesige Schafherden den Fluß hinab, und die Hirten auf den Sampans trugen schwarze Hemden und Strohhüte. Einmal fing ich an zu weinen, weil ich erkannte, daß man all die Enten töten und aufessen würde.« Er seufzte und blickte zu den Sternen empor. »Mein Vater sagte, ich solle nicht traurig sein, denn für eine Ente sei es ein großes Abenteuer, Hunderte von Kilometern in die Welt hinauszuschwimmen, so daß die Tiere sich freiwillig für den Fluß entschieden hätten, auch wenn ihnen ihr Schicksal bewußt gewesen wäre. Dann sah er sich aufmerksam um, als wolle er sichergehen, daß uns niemand belauschte, und verriet mir völlig ernst ein großes Geheimnis. Manchmal, so sagte er, würde einigen Enten die Flucht bis ans Meer gelingen, und dort könnten sie dann ein Leben als berüchtigte Piratenenten führen.«
Niemand sprach. Niemand lachte. Er sah zu Marco, der stumm in Richtung Horizont nickte, als wisse er genau über die Piratenenten Bescheid.
»Danach nahmen wir zu unseren Besuchen am Fluß stets Papier, Tintensteine und Pinsel mit«, fuhr Shan fort. »Manchmal schrieben wir Gedichte über die Herrlichkeit des Flusses und die Schönheit des Mondes, wenn er über
Weitere Kostenlose Bücher