Das Auge von Tibet
Nähe der Küste gewohnt«, antwortete Shan. »Die Familie meiner Mutter stammte aus einem Fischerdorf.«
»Strände!« rief Marco auf englisch. »Aus weißem Sand, wie warmer Schnee. Wasser, so weit man nur sehen kann. Und dann der Thunfisch.« Er blickte auf eines seiner Kalenderbilder, das Foto eines felsigen, mit Kiefern bewachsenen Küstenstrichs, an dem ein einsames Blockhaus mit leuchtendgelben Fensterläden stand. »Er kann ein Gewicht von mehr als tausend amerikanischen Pfund erreichen«, sagte er ernst. »Ein Raubfisch, für dessen Fang man mutig und stark sein muß.« Er schaute wieder zu seinen Magazinen.
Shan konnte sich lebhaft vorstellen, wie Marco hier während tagelanger Schneefälle auf seinen Decken lag und ganze Abschnitte der Zeitschriftenartikel auswendig lernte.
Auf einem der Kalender sah man einen Mann in einem blütenweißen Hemd, der soeben einen langen silbernen Fisch an Bord eines blütenweißen Bootes zog. »Seit fünf Generationen hat niemand aus meiner Familie je einen Ozean zu Gesicht bekommen«, verkündete Marco voller Sehnsucht. »Salzwasser. Es gibt dort Fisch, herrlichen Fisch, so schwer wie ein Hammel und so köstlich wie süßer Kuchen.« Er sah Shan ernst an und beugte sich dann vor, als wolle er ihm ein bedeutendes Geheimnis anvertrauen. »Es existiert ein Ort namens Alaska«, sagte er leise. »Da gibt es Berge wie hier. Und ein Meer gibt es dort auch. Ich habe Bilder davon gesehen. Nikki hat Bücher, in denen darüber geschrieben wird. Riesige Fische. Man brät sie in Butter. Und wissen Sie, was es außerdem dort gibt, Johnny?«
Shan zuckte die Achseln. »Ich bin noch nie dort gewesen.«
»Es gibt dort Russen. Emigranten aus der Zarenzeit. Russen, die englisch sprechen. Und die freie Männer sind.«
Shan lächelte. Ihm wurde bewußt, daß er Marco nicht so sehr wegen seiner kühnen Taten mochte, sondern vor allem wegen seiner kühnen Träume.
Marco nahm ein dickes Buch von einer Holzkiste, ein altes Fotoalbum. Dann bedeutete er Shan, neben ihm auf dem Bett Platz zu nehmen, während er schnell durch die Seiten blätterte, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: die brüchige, verblaßte Aufnahme eines Kamels, das eine Art Seidenbanner auf dem Rücken trug und dessen Zügel in der Hand eines kahlköpfigen Mannes mit dichtem Schnurrbart lagen. Auf der anderen Seite des Tiers stand ein weiterer Mann, ein Europäer mit einer großen Uschanka, der für Rußland typischen Pelzmütze. Am Mantel des Europäers hing ein glänzender sternförmiger Orden. Flankiert wurden die beiden lächelnden Männer von zwei ernsten Wachen, die Turbane auf den Köpfen trugen und lange Gewehre hielten.
»Sophies Urgroßmutter«, sagte Marco stolz.
»Ich entdecke eine gewisse Ähnlichkeit«, sagte Shan, um höflich zu sein.
Seine Worte erfreuten Marco, der daraufhin das Album mit breitem Grinsen wieder schloß. Er wies auf einen Gegenstand, der an einem Lederriemen von einem der Bettpfosten hing, nahm ihn ab und zeigte ihn Shan. Es handelte sich um den Orden, der auch auf dem Foto zu sehen war. »Den hat der Zar höchstpersönlich meinem Urgroßvater verliehen«, erklärte Marco stolz. Es war ein goldener Stern mit rot glasiertem Rand und dem Abbild eines Kavalleristen in der Mitte. Marco musterte das Abzeichen mit stiller Genugtuung und schaute dann zur Wand, als würde er einen Blick auf eine unsichtbare Uhr werfen. »Es wird langsam Zeit, nach oben zu gehen. Da gehen wir nämlich immer hin«, verkündete er, stand auf und verließ den Raum mit langen, gemächlichen Schritten.
Shan sah kurz nach den Jungen, die in Nikkis Zimmer schliefen, und gesellte sich dann zu Marco auf den Turm. Der eluosi ließ den Blick in die Ferne schweifen, als würde er nach jemandem Ausschau halten.
»Ihr geplantes Treffen mit der Jadehure ist nicht ganz ungefährlich«, sagte Marco nachdenklich, ohne den Kopf zu wenden. »Sie haben den Jungen gehört. Die Frau hat Khitai ermordet.«
»Das wissen wir nicht. Malik hat sie lediglich am folgenden Tag gesehen. Und Sie haben nicht miterlebt, wie Xu reagiert hat, als Kublai zu ihr gebracht wurde. Sie war aufrichtig entsetzt.«
»Sie dürfen die Anklägerin auf keinen Fall unterschätzen.«
»Aber ich darf sie auch nicht vorverurteilen«, hielt Shan ihm entgegen.
Marco schnaubte verächtlich.
»Warum sollte sie zweimal dort auftauchen?« fragte Shan. »Weshalb hat sie das Gemälde nicht gleich nach dem Mord an Khitai mit Farbe besprüht?«
Marco hob resigniert
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