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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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die Hände. »Vielleicht hatte sie beim erstenmal keine Farbe dabei. Oder sie wollte unbedingt noch diese Kamera dort verstecken.«
    »Ich weiß nicht. Eventuell gibt es mehr als einen Täter«, sagte Shan. »Kublai und Suwan wurden erschossen. Alta und Khitai wurden verprügelt und erstochen.«
    »Vielleicht waren es sogar vier Mörder«, sagte Marco düster. »Jemand hat die Jagd auf kleine Jungen freigegeben.«
    »Aber bei jedem der Kinder hat ein Schuh gefehlt«, sagte Shan gedankenverloren. Er wußte keine Antwort. Sie beobachteten den Mond. Er ertappte sich dabei, wie er auf das Zirpen der Grillen lauschte.
    »Als wir heute hier eingetroffen sind, haben Sie darauf gehofft, bereits erwartet zu werden«, sagte Shan nach einigen Minuten. »Wegen des silbernen Zaumzeugs.«
    Er konnte Marco im Mondschein nicken sehen. »Osman. Mit weiteren Pferden.«
    »Das Zaumzeug war ein Signal«, spekulierte Shan. »Es bedeutete einen neuen Plan, einen schnelleren Aufbruch für die nächste Karawane.«
    Marco nickte. »Das Zaumzeug war ein Hochzeitsgeschenk für Jakli. Es bedeutet einfach nur, daß sie sich auf das Reiterfest, das nadam, vorbereiten soll.«
    Aber Jakli war nicht mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, sondern schlich sich im Gebirge an den Kriechern vorbei, um möglichst das Leben der Waisenkinder zu retten. Eventuell würde sie dort oben auf Nikki treffen, und vielleicht würde der sie davon überzeugen können, kein weiteres Risiko einzugehen.
    »Etwas verstehe ich nicht, Marco«, sagte Shan nach langem Schweigen. »Sie sind ein Schmuggler, aber Sie wohnen mehr als hundertfünfzig Kilometer von der Grenze entfernt.«
    »Alles andere wäre zu gefährlich. Als würde man sich dem Odem eines Drachen aussetzen.« Der eluosi blickte zum Mond und gähnte. »Sie sind zu konventionell. Sie denken zu sehr wie ein Polizist. Es gibt verschiedene Arten von Grenzen. Hinter der nächsten Bergkette liegt Aksai Chin. Eine umstrittene Region, die auch von Indien beansprucht wird. Ursprünglich war sie ein Teil von Ladakh«, erklärte er und bezog sich damit auf das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien, durch das der Oberlauf des Indus führte.
    »Aber die Volksbefreiungsarmee hält Aksai Chin besetzt«, erinnerte Shan ihn. »Da sind überall Soldaten. Und Dörfer. Moslemische genauso wie alte tibetische Dörfer.« Die Kriecher hatten ihn einst in einem gepanzerten Wagen, wie er besonderen Gefangenen vorbehalten war, durch die Region transportiert. Während einer Pause hatte er sich zehn Minuten lang die Beine vertreten dürfen und dabei zum erstenmal in seinem Leben einige Gebetsfahnen zu Gesicht bekommen, die auf einem fernen Felshaufen befestigt gewesen waren. Er wußte noch, daß er damals von den verabreichten Drogen ganz benommen war und geglaubt hatte, es müsse sich wohl um eine Art Festtag handeln.
    »Ich habe etwas festgestellt, Johnny«, raunte Marco verschwörerisch. »Manchmal sieht man immer weniger, je länger man hinschaut.«
    Der Mond strahlte so hell und klar, daß er wie ein glänzendes Stück Porzellan wirkte. In einiger Entfernung leuchteten die hochgelegenen Schneefelder.
    »Die Armee hat riesige Kavernen«, sagte Marco. »Tausende von Strafarbeitern mußten ganze Berge aushöhlen. Manche Leute behaupten, die gesamte tibetische Grenze bestehe lediglich aus einer Reihe hohler Berge voller Soldaten. Sie haben ihre verfluchten Raketen und Radarschüsseln. Falls ein indisches oder pakistanisches Flugzeug in den Luftraum eindringt, können sie es innerhalb weniger Sekunden abschießen. Aber einen Adler registrieren sie niemals, weil sie zur Überwachung Maschinen einsetzen, und die reagieren auf Metall, nicht auf Lebewesen. Sie und ich, wir würden den Himmel beobachten. Aber die Soldaten hocken einfach nur in den Bergen und starren auf Monitore. Falls Armeelaster oder Panzer über einen der Pässe kommen, sehen sie die Fahrzeuge auf ihren Detektoren. Aber ein oder zwei Kamele werden vielleicht nicht bemerkt. Anderswo gibt es Patrouillen, aber einige Stellen sind so wichtig, daß sie nur elektronisch überwacht werden. Eine kleine, vorsichtige Gruppe kann sich vorbeischleichen. Niemand darf Metall mit sich führen. Niemand darf ein lautes Geräusch verursachen. Außerdem sollte man es nicht zu oft riskieren, muß verschiedene Routen nutzen und ständig die Vorgehensweise ändern.« Er seufzte und deutete auf eine Sternschnuppe. »Das alles läßt sich aus hundertfünfzig Kilometern Entfernung durchaus

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