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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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arrangieren. Bisweilen findet ein weiser Mann sogar Mittel und Wege, um ohne Schmuggler zu schmuggeln.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Zum Beispiel Lastwagen. Schwere Transportfahrzeuge sind in Xinjiang sehr gefragt. Also bin ich letztes Jahr mit fünf großen Lastern voller indischer Farbstoffe für die Teppichfabriken über die Grenze gekommen. Die Soldaten haben die Ladung gründlich durchsucht, aber die war völlig legal. Keiner ist auf die Idee gekommen, daß ich in Wahrheit die Lastwagen eingeschmuggelt habe. Mit den gleichen Papieren habe ich dann fünf Fahrzeuge zurück über die Grenze geschickt. Aber die waren zwanzig Jahre älter und fielen schon fast auseinander.« Mirco lachte in sich hinein. »Eines davon war sogar ein Bus. Und ich habe noch etwas festgestellt. Wann ist Schmuggelware keine Schmuggelware?« Er sah Shan an und lehnte sich auf die alte steinerne Brustwehr. »Wenn die Regierung sie ins Land bringt.«
    Shan nickte. Während er in Peking lebte, hatte er vornehmlich in Korruptionsfällen ermittelt. Einmal war er auf eine ganze Schiffsladung von Gütern gestoßen, die problemlos die Zollabfertigung passiert hatte, weil die gefälschten Papiere der Schmuggler sie als Eigentum des Ministeriums für Ölförderung auswiesen.
    »Wenn jemand in der Regierung eine Wunschliste hat, will er häufig gar nicht genau wissen, woher die Waren stammen. Mitunter sorgt er sogar dafür, daß bei den Grenzkontrollen ein Auge zugedrückt wird.«
    »Heißt das, daß Sie manchmal für die Behörden arbeiten?«
    Marco stieß einen Fluch aus. »Niemals. Lassen Sie es mich anders formulieren: Wenn ein gieriger Offizier ganz wild auf irgendwelche westlichen Güter ist, gibt er womöglich eine Bestellung auf und ändert dann die Route der Patrouille, damit seine Lieferung nicht abgefangen wird.«
    »Und bei solchen Gelegenheiten lassen sich auch Leute nach draußen schmuggeln«, sagte Shan. »Manche bleiben draußen. Andere, wie Nikki, reisen hin und her.«
    »Genau. Es gibt Schleichwege vorbei an den Raketensilos. Und zwischen den Schneefällen kann man hochgelegene Pässe nutzen, die für Fahrzeuge nicht geeignet und bei chinesischen Soldaten ziemlich unbeliebt sind. Nur ein paar alte Jäger wissen darüber Bescheid. Da oben können Kälte oder Wind genauso tödlich wie eine Kugel sein. Nikki kennt sich dort gut aus. Er ist wegen der Pferde drüben gewesen. Er kennt einen Pferdehändler in Ladakh, auf der anderen Seite der Grenze.«
    »Weiße Pferde?« mutmaßte Shan.
    »Richtig. Für Jakli.«
    »Wegen der Hochzeit. Beim Reiterfest.«
    Marco nickte. »Alle Kasachen werden dort sein, die wenigen alten Clans, die hier noch übrig sind. In vier Tagen geht es los. Das letzte nadam der Clans des Bezirks Yutian«, schloß er melancholisch.
    Shan überlegte kurz. »Lau hätte daran teilgenommen, nicht wahr?«
    »Jakli hat Lau gebeten, ihre Trauzeugin zu sein. Die alte Tibeterin war fast so etwas wie eine Mutter für sie.«
    »Aber warum die Pferde, wenn Jakli und Nikki doch von hier weggehen werden?«
    Marco gab ein Brummen von sich. »Sie können nicht damit aufhören, was? Sie müssen immerzu Fragen stellen.«
    »Ja, solange es hier irgendwo einen Mörder gibt, der es auf Kinder abgesehen hat.«
    Marco knurrte, was Shan als schicksalsergebene Kapitulation wertete. »Nikki bleibt gar nichts anderes übrig, als diese Pferde zu besorgen. Dazu muß man verstehen, welche Beziehung zwischen den Kasachen und ihren Reittieren herrscht. Für einen Chinesen ist das völlig ungewohnt. Für einen Russen übrigens auch. Pferde können hier so wichtig wie Familienangehörige sein.«
    »Kamele manchmal auch.«
    »Nein, bei mir und Sophie ist das anders. Die alten Kasachen erzählen, daß ihre eigenen Seelen mit denen der Pferde verflochten seien. Sie benennen Pferde nach ihren Kindern und Kinder nach ihren Pferden. Einer der wichtigsten Tage im Leben eines Kasachen ist der Tag, an dem er seinen ersten Sattel erhält, weil er dann alt genug ist, um allein reiten zu dürfen. Sie verfügen über ein umfangreiches Begriffsrepertoire für verschiedene Pferdetypen und die diversen Bewegungsarten von Pferden. Sie erzählen sich Geschichten über Pferde, die vor fünfhundert Jahren gelebt haben. Ihre Schamanen können mit Pferden sprechen. Wenn es um die eigene Gesundheit geht, dürfte kein alter Kasache freiwillig einen Fuß in eine chinesische Klinik setzen, aber wenn sein Pferd krank wird, ist er zu allem bereit und würde sogar einen

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