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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verzweifeltem Tempo nach Karatschuk, um Marco zu sagen, daß der Yakde und seine Beschützer gemeinsam mit Jakli und Nikki die Flucht ergreifen mußten.
    Als Shan die Höhle verlassen wollte, tauchten zwei Gestalten am Eingang auf. Jakli, in der Hand eine Fackel, und Kaju. Sie lächelte Shan traurig an. »Also gut. Ich habe zu ihm gesagt, ein wirklicher Lehrer würde die Wahrheit erfahren wollen.«
    Shan nickte stumm und trat beiseite, damit sie Kaju durch die Eishöhle zu Tante Lau führen konnte. Dann folgte er in einigem Abstand. Als er den Eingang der Grabkammer erreichte, hörte er Kaju aufstöhnen und sah ihn auf die Knie fallen. Shan blieb im Hintergrund vor den Handabdrücken im Eis stehen, während Jakli dem Tibeter das Einschußloch in Laus Stirn zeigte.
    Kaju hielt sich den Bauch, als sei ihm schlecht. Dann fing er an zu schluchzen.
    »Sie hat mir Akten hinterlassen«, sagte Kaju schließlich sehr leise. »Drei Tage vor ihrem Verschwinden hat sie die Akten aller Kinder auf den neuesten Stand gebracht. Dieses Mädchen hatte schon mal eine Lungenentzündung, also achte darauf, daß sie stets ihre Mütze trägt. Jenes beobachtet gern Vögel. Dieser Junge muß in drei Monaten zum Zahnarzt. Es war, als würde sie weggehen.« Er schaute auf seine Hände hinab. »Keine Orte. Sie hat mir nicht verraten, wo ich die Kinder finden kann.«
    »Wieso sagen Sie das?« fragte Jakli argwöhnisch.
    »Major Bao hat mich danach gefragt. Zweimal, höchstpersönlich. Und vor drei Tagen in der Schule hat auch Genosse Hu diese Frage gestellt. Er sagte, die Eintragungen müßten ergänzt werden.«
    Die Worte hingen wie eine dunkle Wolke über ihnen.
    Dann trat Shan an die Seite des Tibeters. »Sie sollten sich sorgfältig überlegen, wer Sie bislang angelogen hat«, sagte er.
    Kaju schaute verwirrt zu ihm auf. »Niemand«, erwiderte er zögernd. »Das alles ist eine schreckliche Tragödie.« Er blickte zu Jakli, dann wieder zu Shan. »Außer Ihnen. Die anderen sagten, Lau würde vermißt. Aber Sie haben die Leiche versteckt.«
    »Das alles war von vornherein geplant, und Sie sollten hergebracht werden, um Lau zu ersetzen.«
    »Ja, denn Lau würde doch in Pension gehen«, sagte der Tibeter. »Nach Urumchi.« Er kippte nach hinten in eine sitzende Position, als habe er das Gleichgewicht verloren.
    »Ko hat Ihnen erzählt, Lau würde auf jeden Fall nach Urumchi umziehen?«
    Kaju nickte. »Ko sagte, er würde an der Schule eine Gedenktafel für sie anbringen. Lau wird für die Brigade immer eine Heldin sein.« Er starrte Laus Gesicht an. »Ich werde nicht zulassen, daß sie mich aufhalten«, sagte er. Es klang, als würde er der Toten ein Versprechen geben.
    »Wer?« fragte Shan und setzte sich neben den Tibeter.
    »Diejenigen, die das hier getan haben. Die Reaktionäre.«
    Jakli stöhnte auf.
    »Das waren keine Reaktionäre«, sagte Shan ruhig. »Das war jemand, der einen Jungen gesucht hat. Einen ganz besonderen Jungen.« Und dann erzählte er ihnen von dem Yakde Lama, doch vermied er es im Beisein von Kaju, das Kloster Rabennest oder den Wasserhüter zu erwähnen. Er sprach allerdings von General Rongqi und daß ein Junge der zheli die Reinkarnation des Yakde gewesen war. Auch den Jadekorb verschwieg er nicht.
    Jakli seufzte tief, hob dann langsam die Hand und legte sie auf Tante Laus Schulter. Der Tibeter saß stumm da und starrte mit ratlosem Blick die Leiche an. »Falls Sie recht hätten, ergäbe sich daraus, daß alle anderen gelogen und unter einer Decke gesteckt haben. Ko. General Rongqi und Major Bao. Aber das ist nicht der Fall. Die Regierung verhält sich heutzutage anders. Bao und die Öffentliche Sicherheit begreifen es manchmal nicht. Eine unserer Aufgaben besteht darin, ihnen beim Verständnis der neuen Techniken behilflich zu sein...« Seine Stimme erstarb, als habe er den Faden verloren. »Aber die Brigade ist anders. Ich habe einen Brief des stellvertretenden Vorsitzenden Rongqi erhalten, in dem er mich zu meiner Ernennung beglückwünscht. Diese Leute haben mich auf die Universität geschickt«, schloß Kaju, als sei dadurch viel erklärt.
    »Um die Integration der Kulturen zu studieren«, stellte Shan fest. »Nicht ihre Zerstörung.«
    »Aber meine Ausbildung«, wandte Kaju wie aus Protest ein.
    »Ausbildung wozu?« unterbrach Jakli ihn. »Um Lehrerinnen zu ermorden? Um kleine Jungen umzubringen?« Sie hielt inne, als sei sie vor dem gehässigen Klang ihrer Stimme selbst erschrocken.
    »Natürlich

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