Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
»Keiner weiß, wie, aber es muß wohl so sein. Die kasachische Schwester spricht ein wenig tibetisch. Er scheint ihr zu vertrauen, denn er hat sie gefragt, in welcher Richtung das Lamafeld liegt, weil er sich jetzt im Gebet dorthin wenden müsse.«
    »Sagt ihr, sie soll nicht mehr tibetisch sprechen. Andere könnten deswegen...«: Er hielt inne, weil er bemerkte, daß Jakli ihm nicht zuhörte. Sie schaute zu Kaju.
    »Es gibt etwas, das Sie für Kaju tun müssen«, sagte Shan nach einem Moment. »Nur Sie sind dazu in der Lage.«
    Jakli sah ihn unsicher an und seufzte.
    »Es könnte sich dabei um das Wichtigste handeln, das überhaupt einer von uns auszurichten vermag«, fuhr er zögernd fort und beobachtete, wie Kaju mit weiterhin schüchterner Miene zwischen den Jungen umherwanderte. »Aber ich werde es nicht tun. Sie war Ihre Lehrerin.«
    »Nein«, sagte Jakli langsam. Es klang fast wie ein Stöhnen. Als sie ihn diesmal ansah, lag keinerlei Unsicherheit in ihrem Blick. Nur Kummer. »Das kann ich nicht.«
    »Er wird nicht akzeptieren, daß Lau ermordet wurde. Und alles, was er bislang getan hat, basiert auf dieser irrigen Annahme.« Shan blickte den Hang hinauf. »Vielleicht wird er feststellen, daß er ihr etwas zu sagen hat.«
    »Und wenn er nach Yutian rennt und die anderen herholt? Wo sich doch zur Zeit alle Jungen hier befinden? Das wäre genau nach Xus Geschmack.«
    »Ich bin mir nicht mehr sicher, was Xu will«, entgegnete Shan.
    Jakli ignorierte ihn. »Sie würde es als einen eindeutigen Beweis für die Verschwörung der Kasachen werten und behaupten, wir hätten Lau ermordet und dann die Tat vertuscht. Sie würde alle Jungen mitnehmen, vielleicht sogar die ganze zheli . Dann würde sie die Kinder in eine Sonderschule stecken und Chinesen aus ihnen machen.«
    »Sie können sich zwischen Vertrauen und Mißtrauen entscheiden. Lau würde das Vertrauen wählen. Es liegt bei Ihnen. Ich werde Kaju nicht dorthin mitnehmen, denn ohne Ihre Einwilligung würde ich Sie dadurch entehren.«
    Sie sah ihn mit gequältem Blick an und ging dann langsam und wortlos weg. Auch Shan entfernte sich unauffällig von den anderen. Als er den Schatten der Hütte erreicht hatte, bog er eilig auf den Pfad ein. Zwanzig Minuten später stand er vor der Höhle. Er entzündete eine der Fackeln und trat ein.
    Die Kammer des Wasserhüters wirkte unberührt. Er ging im Raum umher. Neben dem Eingang sah er die Worte, die er für Gendun zurückgelassen hatte. Das einzig Konstante ist die Veränderung. Freudig bemerkte er, daß darunter eine weitere Nachricht stand. Es war ganz unverkennbar Genduns Handschrift. Doch auch Veränderungen unterliegen Gesetzmäßigkeiten, hatte der Lama geschrieben.
    Shan drehte sich um und durchsuchte erneut den Raum. Unter dem Strohsack vor der Wand fand er einen großen fleckigen Umschlag voller Unterlagen. Es waren behördliche Schreiben, wie sie routinemäßig wohl jeder erhalten würde, der sich gegen Bezahlung um den Zustand der Bäche kümmerte. Shan überflog sie hastig. Die Blätter waren mit Büroklammern zu mehreren Gruppen zusammengefaßt und in regelmäßigen Abständen datiert. Anscheinend reiste der Wasserhüter jede zweite Woche in die Stadt und erhielt dort seine Papiere. Nichts davon wirkte außergewöhnlich, abgesehen von dem allerletzten Blatt. Es stammte von Ko Yonghong und trug einen besonderen Briefkopf: Programm zur Beseitigung der Armut, Bezirk Yutian. Die Wasserhüter des Bezirks würden allesamt privatisiert und von der Brigade übernommen, stand dort. Zur Feier dieses Ereignisses würde die Brigade jedem ein Geschenk überreichen. Und zwecks Erleichterung des großen Projekts sollten alle Hüter von nun an genau festhalten, wann und wie sich Hirten oder andere Personen durch die ihnen zugewiesenen Aufsichtsgebiete bewegten. Da die Brigade sich ihnen besonders zugetan fühlte, sollten alle Waisenkinder einzeln notiert und gebeten werden, sich bei Direktor Ko zu melden, damit man sie in ein besonderes Unterstützungs programm aufnehmen konnte. Baut durch strikte Pflichterfüllung auch weiterhin den Sozialismus auf, hieß es abschließend.
    Wie Jakli herausgefunden hatte, war Lau am Tag ihres Todes bei der Hütte gewesen. Die Kinder der zheli erhielten die Anweisung, sich allein zu beschäftigen, und Lau suchte den Wasserhüter auf. Der alte Lama zeigte ihr das Schreiben von Ko, und sie begriff, daß dies nun tatsächlich den Anfang vom Ende bedeutete. An jenem Abend ritt sie in

Weitere Kostenlose Bücher