Das Auge von Tibet
der Tasche, auf der Jowa mit einem Bleistiftstummel einige Eintragungen vornahm. Als Jowa fertig war, nickte der junge Mann und kletterte auf den Fahrersitz des Lastwagens. Unmittelbar darauf erwachte stotternd der Motor zum Leben, und der alte Jiefang setzte sich ächzend und widerwillig in Bewegung. Mit zunehmender Geschwindigkeit bog er auf den gewundenen Pfad ein, der zurück über die Berge führte.
»Er wird nach Gendun Ausschau halten«, sagte Jowa zu Shan. Seine Stimme klang hohl und leer. »Falls er unterwegs Tibeter trifft, wird er sie ebenfalls um Hilfe bitten.«
Als er den Lastwagen verschwinden sah, mußte Shan gegen eine Woge von Gefühlen ankämpfen. Das Fahrzeug war seine letzte Verbindung zu Gendun, das letzte Bindeglied zu seinem neuen Leben im Hochgebirge Zentraltibets und zu den Mönchen, die ihm zu einer zweiten Familie geworden waren, wie er sie seit mehr als dreißig Jahren, seit der Ermordung seines Vaters durch die Roten Garden, nicht mehr gekannt hatte. Für Shan sei der Zeitpunkt gekommen, die Berge zu verlassen, hatte einer der Mönche an jenem Abend beim Mandala zu ihm gesagt. Vielleicht nicht für immer, aber zumindest für eine Weile. Um zu erkennen, wer er war, hatte der Mann gemeint. Shan war kein Mönch, obwohl er bei ihnen lebte. Doch er war auch kein Chinese mehr. Betrachte es als Pilgerreise, hatte ein anderer Mönch vorgeschlagen. Aber Buddhisten wurden normalerweise zum Gipfel des Bergs Kailas oder zu anderen heiligen Stätten geschickt, an denen die Geister der Gottheiten residierten. Am Ende von Shans Wallfahrt standen Tod und Verwirrung, und womöglich warteten nur Leid und Argwohn auf ihn.
Er wußte, daß das Vertrauen der Mönche ihn ehren sollte. Aber in jenem Augenblick fühlte er sich alles andere als geehrt. Er verspürte nur Müdigkeit und Angst. Angst um Gendun. Angst wegen der Morde an den Jungen, die aus völlig unbekannten Motiven erfolgt waren. Angst, daß man ihn aufhalten würde, bevor er sich des Vertrauens würdig erweisen könnte. Stell dir vor, du wärest in einem Geisterpalast und würdest hundert Türen vor dir sehen, hatte einer seiner buddhistischen Lehrmeister einst zu ihm gesagt. Nur eine dieser Türen ist für dich bestimmt, aber wie lange wird es dauern, bis du sie erkennst? Heute sah er sich diesen hundert Türen gegenüber, und neunundneunzig davon führten in den Untergang. Shan widerstand dem Impuls, dem Lastwagen hinterherzulaufen, sich auf die Ladefläche zu schwingen und wieder in sein Faß zu kriechen.
Die beiden Fremden kamen näher, hielten jedoch sofort wieder inne, als plötzlich schnelles Hufgetrappel ertönte. Ein Reiter galoppierte heran. Er trug einen zerlumpten Fellmantel und eine rote Wollmütze und schwang sich vom Rücken seines braunweißen Pferdes, noch bevor das Tier ganz zum Stehen gekommen war. Schweigend verharrte der Neuankömmling vor dem älteren Mann, neigte respektvoll den Kopf und nahm dann die Mütze ab. Darunter kam eine Frau zum Vorschein, die ihr schwarzes Haar hinter den Ohren zu zwei kurzen Zöpfen geflochten hatte. Das Kamel brüllte laut, rannte blindlings auf sie zu und stieß Lokesh dabei zu Boden. Die Frau strich dem Tier einmal kurz, aber liebevoll über den Kopf, lief dann zu Lokesh und reichte ihm die Hand, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
»Großvater«, sagte sie sanft auf tibetisch und benutzte die traditionelle respektvolle Anrede für eine ältere Person. »Bitte verzeiht ihr, sie ist nur eine bata, eine Einjährige, und muß noch viel lernen.« Der Klang ihrer Stimme zeugte von Ruhe und Kraft.
Lokesh brach abermals in sein keuchendes Gelächter aus. »Ich hab so ein Tier schon mal auf einem Bild gesehen«, sagte er vom Boden aus und schüttelte die hilfreich ausgestreckte Hand der Frau, als habe sie ihn auf diese Weise begrüßen wollen. »Ich dachte damals, es sei ein mythisches Geschöpf, eine jener Gestalten, wie sie die Götter in den Visionen der Sterblichen annehmen. Aber meine Frau sagte, es sei lediglich ein Pferd mit gebrochenem Rücken.«
»Nein, Großvater«, entgegnete die Frau und zwinkerte. Sie war jung, nicht älter als fünfundzwanzig, und im Schein der aufgehenden Sonne schimmerte ihr Haar rötlich. »Sie ist bloß ein Esel, der zwei Schildkröten verschluckt hat.«
Vorsichtig stützte sie Lokesh beim Aufstehen und bürstete dann den Staub von seinem Rücken. Die zwei anderen Männer beeilten sich nun und holten ein weiteres Kamel sowie mehrere kleine, stämmige Pferde
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