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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hat Bao sich dazu entschlossen, mit der Begründung, Lau habe einst ein öffentliches Amt bekleidet. Wir haben ihm unsere Akte geschickt, und er ließ die beiden Zeugenaussagen einheften. Und jetzt gibt es keinen Fall mehr, denn Bao hat ihn für abgeschlossen erklärt. Es wurde ein Unfalltod festgestellt.«
    »Dann können alle zur Befragung Festgenommenen ja nun auf freien Fuß gesetzt werden.«
    Xu ging nicht darauf ein. »Bao hat seinen Presseoffizier eingeschaltet. In der Zeitung wird ein ausführlicher Nachruf auf Lau erscheinen.«
    »Wer waren diese beiden Zeugen?«
    »Zunächst Genosse Hu aus der Schule. Er ließ uns wissen, er habe Lau bereits einmal gemeldet, weil sie in ihrem Unterricht Lobreden auf Dissidenten hielt. Und am Tag nach ihrem Verschwinden hat er auf dem Weg zur Arbeit gesehen, daß eine Frauenleiche im Fluß trieb.«
    »Und jetzt hat er sich ganz plötzlich wieder daran erinnert.« Was hatte Hu im Lager Volksruhm gesagt? Er mußte an seine Familie denken.
    »Die andere Aussage stammt von einem Experten für Spurensicherung aus Kashi. Er behauptet, die Mineralspuren an der Brieftasche mit den Ausweispapieren passen genau zu dem vermeintlichen Fundort am Flußufer.«
    »Ich bin grenzenlos erstaunt, zu welchen Leistungen die Mitarbeiter der Volksregierung fähig sind, wenn man sie nur richtig motiviert«, stellte Shan seufzend fest. Er sah auf seine Hände. »Haben Sie überprüft, wie Sui in den Besitz von Laus Papieren gelangt ist?«
    »Durch einen verantwortungsbewußten Bürger.« In den Behördenakten war dies der gängige Schlüsselbegriff für eine anonyme Quelle.
    »Das glaube ich nicht. Ich vermute, Sui selbst hatte die Papiere in seinem Besitz.«
    Xu stand auf, ging langsam um den Tisch herum und verschwand hinter Shan. Er wappnete sich, wandte jedoch nicht den Kopf. Die Anklägerin kam mit einer der Holzleisten wieder zum Vorschein und setzte sich.
    »Ich dachte, Bao würde eventuell die andere Theorie verfolgen«, sagte Shan gelassen. Xu hob fragend die Augenbrauen. »Daß Lau und Sui zusammen durchgebrannt sind. Womöglich als geheimes Liebespaar. Oder daß sie vielleicht beide ertrunken sind, als sie heldenhaft versuchten, ein Buch mit den Reden des Großen Vorsitzenden zu retten, das versehentlich in den Fluß gefallen war.«
    Xus Augen funkelten vor Wut. Sie schlug sich mit dem Stab beiläufig auf die Handfläche, als wolle sie dessen Biegsamkeit prüfen. »Mein leitender Untersuchungsbeamter und Leutnant Sui waren befreundet. Sui ist manchmal nach Feierabend hergekommen und hat unten an der Treppe auf ihn gewartet.« Shan sah zur Tür. Der kahlköpfige Mann dürfte sich bei diesen Gelegenheiten ebenfalls in der Eingangshalle aufgehalten haben.
    Bestimmt hatte er alles mit angehört, was Sui sagte. Vielleicht war dieser unauffällige Glatzkopf Xus eigentlicher Ermittler, dachte Shan.
    »Sui hat viel geprahlt. Er hatte sich einen Fernseher, ein Radio und einen japanischen Staubsauger zugelegt. Und schon bald wollte er sich ein neues Auto kaufen.«
    Shan sah sie mit ungerührter Miene an. »In Yutian sind die Straßen mit Gold gepflastert. Man muß nicht einmal der Brigade angehören, um reich zu werden, aber dort fällt es natürlich besonders leicht. Genosse Ko ist dermaßen wohlhabend, daß er Bao seinen Sportwagen überlassen hat.«
    »Bao? Unmöglich. Die beiden sind grundverschieden. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander. Ich habe bei Sitzungen häufiger mitbekommen, wie sie in Streit geraten sind. Ko sagt, Bao sei zu tief in der alten Wirtschaftslehre verwurzelt. Bao behauptet, Ko wisse nicht genügend zu schätzen, was der Staat für ihn getan habe.«
    »Und dennoch hat er ihm den Wagen gegeben«, sagte Shan.
    »Das müßte sich doch leicht nachprüfen lassen. Ein leuchtendrotes Auto in einer tristen grauen Stadt.« Xu starrte eindringlich die Holzleiste an, als könnte dort die Erklärung dafür liegen, weshalb Ko etwas so Unwahrscheinliches tun sollte. »Fünf von Kos Jahresgehältern würden nicht ausreichen, um einen solchen Wagen zu kaufen«, sagte sie langsam, ohne den Kopf zu heben.
    »Doch mittlerweile hat er angekündigt, er würde sich noch einen zulegen, um Loshi durch die Gegend zu fahren.«
    »Loshi?« Xu blickte ungehalten auf und nickte dann, als ihr einzufallen schien, daß Shan bei seinem ersten Besuch mit der Sekretärin gesprochen hatte. Ihre Finger spielten unruhig mit der Leiste herum, ließen sie ständig von einer Hand in die andere fallen. Dann legte

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