Das Auge von Tibet
sei ihre Heimlichtuerei wegen der Kinder gewesen.«
Shan überdachte Kajus Worte und den gequälten Gesichtsausdruck des Tibeters. »Also haben Sie alles in den Computer eingegeben.«
Kaju nickte langsam.
Shan sah ihn prüfend an. Er konnte nicht sagen, das alles habe keine Rolle gespielt.
Kaju seufzte laut, drehte sich zu Lau um und ging rückwärts aus dem Raum.
Shan blieb in der kalten Gruft zurück, während Jakli den Tibeter wieder nach draußen führte. Bei seinem ersten Besuch hatte er die Lehrerin Lau vor sich gesehen. Diesmal wollte er die ani Lau, die tibetische Nonne, aufsuchen. Er kniete erneut an ihrer Seite nieder. Sprich zu mir, wollte er sagen. Wer von ihnen ist nach Karatschuk gekommen? Wer von denen in Yutian versah nur pflichtgetreu seinen Dienst, und wer arbeitete mit Bao zusammen und war ein Mörder? Er seufzte und zog das kleine Tongefäß aus der Jacke, das man in Lhadrung mit heiligem Sand gefüllt und versiegelt hatte. Er barg es einen Moment in den Händen und kratzte dann mit dem Daumennagel das Siegel ab. Danach schlug er Laus Gewand zurück, schüttete den heiligen Sand genau über dem Herzen in einem kleinen Kreis auf ihr Hemd und plazierte das leere Gefäß neben ihrem Kopf. Sorgfältig stellte er den ursprünglichen Zustand der Kleidung her, trat zurück und musterte das umliegende Eis mit den Vertiefungen darin. Neben einigen anderen hatten dort Jakli, Akzu, Kaju und er selbst eine Spur hinterlassen. Die Abdrücke konnten tausend Jahre und mehr überdauern, als fortwährendes Mahnmal ihrer Schande, weil sie zugelassen hatten, daß eine fromme Frau durch einen Kopfschuß sterben mußte.
Als Shan wieder im Lager des Roten Steins eintraf, wurde ihm bewußt, daß die Jungen nicht alles über Genduns und Lokeshs Aufenthalt erzählt hatten. Er fand Batu bei Sophie vor. Marco war soeben dabei, dem Jungen stolz die Abstammung des Tiers zu erläutern.
»Wann und wohin sind die Tibeter aufgebrochen?« fragte Shan, nachdem Marco geendet hatte.
»Sie sind gestern abend weitergeritten. Jemand hat ihnen Esel geschenkt«, sagte Batu mit großen Augen. »Das macht man so bei heiligen Männern, hat Lau uns erzählt. Man schenkt ihnen Dinge, damit ihre Götter auf dich herablächeln. Wir haben sie gebeten, noch zu bleiben, aber sie sagten, sie müßten an einen anderen Ort weiterziehen. Sie hatten es eilig.«
»An was für einen anderen Ort?«
Batu schüttelte den Kopf und rief zwei andere Jungen herbei, aber die wußten es auch nicht genau. »In der Wüste«, sagte einer der beiden. »Der alte Mann, der so viel gelacht hat, sagte, er würde einen Ort im Sand kennen, wo die Seelen sich versammeln.«
Shan warf Marco einen besorgten Blick zu. »Der Tränenbrunnen«, stieß er atemlos hervor. »Der Wind treibt die verirrten Seelen dorthin.«
Jakli schlug die Hand vor den Mund. »Sie sind zu alt. Sie könnten ganz leicht vom Weg abkommen und im Wind sterben.«
»Sie sind zur Schule gekommen und haben sich umgesehen«, warf Kaju ein.
»Lokesh?« fragte Jakli. »Der Lama?«
»Nein, die Kriecher. Die Öffentliche Sicherheit ist heute morgen bei uns aufgetaucht. Sie sagten, sie würden nach zwei alten Tibetern suchen, die aus dem Gefängnis entflohen seien.«
Shan starrte Kaju an. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Die Pfade der Mörder hatten sich tatsächlich angenähert. Bao war eigentlich auf der Suche nach subversiven Ausländern, doch inzwischen erkundigte er sich nach Tibetern. Jemand mußte Gendun und Lokesh gesehen und gemeldet haben.
»Heilige Mutter Gottes!« murmelte Marco und fing sofort an, Sophie das Zaumzeug anzulegen.
Jakli sah Shan an. Sie schien jeden Moment in Tränen ausbrechen zu wollen. »Aber wir müssen die Jungen finden.«
»Genau«, sagte der große eluosi . »Und deshalb werden Sophie und ich nach den alten Tibetern suchen.« Sein ernster Blick richtete sich auf Shan. »Falls die Kriecher sie erwischen, werden die beiden keine vierundzwanzig Stunden überleben. Die alten Männer sind der Öffentlichen Sicherheit völlig gleichgültig. Man will sie lediglich aus dem Weg räumen.«
Yutian schien sich im Belagerungszustand zu befinden. Der Marktplatz war still und leer, abgesehen von vier an den Ecken stationierten Trupps der Kriecher. Die wenigen Einwohner, die draußen etwas zu erledigen hatten, eilten mit gesenkten Köpfen durch die Straßen und mieden jeglichen Blickkontakt. Von fern hörte man Pferdegewieher. Auf dem Weg in die Stadt waren Shan und die
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