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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erzielt.«
    Sobald erst einmal die fast immer lodernde Flamme ihres Zorns erloschen war, wurde Xu zu einer anderen Frau, erkannte Shan. Die Jadehure bestand nicht aus Stein. Sie war aus Knorpel gemacht, zähem, unverdaulichem Knorpel, auf dem man allen Anzeichen zufolge schon viele Jahre herumgekaut hatte.
    »Ich möchte nach oben gehen«, sagte er, um ihre Reaktion zu testen. »In den Aktenraum.«
    »Nein!« herrschte sie ihn an und stand auf. Die Audienz war beendet. Xu ging einen Schritt auf die Tür zu und wandte sich dann mit einem unerwarteten Ausdruck des Bedauerns zu ihm um. »Die Videoaufnahme, die ich neulich von Ihnen angefertigt habe, ist verschwunden. Jemand hat sie weggenommen.«
    »Fräulein Loshi? Soll das heißen, die Brigade hat das Band?«
    »Ich weiß es nicht. Ko hat mich nach Ihnen gefragt. Ich habe behauptet, Sie seien ein Staatsgeheimnis.«
    »Welche Belohnung wird heutzutage für ein geheimes Video gezahlt?«
    Xus Stirnrunzeln schien sich noch zu verstärken. Sie verließ den Raum, und der kahlköpfige Mann lief voraus, um die Halle zu überprüfen. Bevor Xu um die Ecke bog, drehte sie sich noch einmal zu Shan um, der in der Tür des Verhörzimmers stand. »Der General hat das Programm erweitert«, sagte sie hastig. »Fünftausend Renminbi Belohnung für jeden, der eines der Waisenkinder herbringt. Aber nur, wenn sie bis zum Ende dieser Woche hier eintreffen.«
    »Bis zum Ende der Woche?« fragte Shan beunruhigt. Es klang makaber. Ein Schlußverkauf der Waisenjungen.
    »Dann kommt General Rongqi selbst nach Yutian. Zu einem Festbankett, um die letzte Stufe des Programms zur Beseitigung der Armut zu feiern.« Sie fuhr herum und hatte bereits mit einem Fuß die Halle betreten, als Shan sie zurückrief.
    »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte er mit Mühe und konnte kaum glauben, was er gleich tun würde. »Eine Möglichkeit, etwas Licht in die Angelegenheit zu bringen.«
    Sie machte kehrt und ließ die Tür zufallen.
    »Fragen Sie den General. Rufen Sie in seinem Büro an, um zu verhandeln. Fragen Sie, was er Ihnen bieten würde.«
    »Bieten?«
    »Fragen Sie ihn, wie hoch die Belohnung für einen Jadekorb wäre.«
    Dann erklärte Shan ihr Rongqis Jagd auf den Yakde Lama.
    Draußen auf den Straßen waren Lastwagen der Kriecher unterwegs. Aus den Fenstern der Häuser schauten ängstliche Gesichter. Ein Hund sah einem der Laster entgegen, zog den Schwanz ein und lief weg. Hastig kehrte Shan zu dem Restaurant zurück, achtete aber darauf, nicht zu schnell zu gehen. Die Kriecher interessierten sich stets für Leute, die es eilig hatten.
    Aber als er das Gebäude erreichte, war die Hintertür verriegelt. Nervös umrundete Shan das Haus und versuchte es am Vordereingang. Abgeschlossen. In zwei Blocks Entfernung bog ein schwarzer Wagen, womöglich eine Streife, um die Ecke und näherte sich. Shan wich in die Gasse zurück. Hinter dem Restaurant lag ein kleiner Hof aus festgetretener Erde, der von einer knapp zwei Meter hohen Lehmziegelmauer umgeben wurde. An der rückwärtigen Wand standen ein Hühnerstall und ein kleiner Schuppen, dessen Tür nur angelehnt war. Shan näherte sich vorsichtig. Er mußte an den Keller denken und daran, daß die Maos Verstecke mit geheimen Fluchtwegen bevorzugen würden.
    Als er die Tür aufstieß, hörte er jemanden von hinten heranlaufen. Noch bevor Shan sich umdrehen konnte, traf etwas Schweres seinen Kopf. Er sank auf die Knie, und der Hof verschwamm vor seinen Augen. Dann wurde alles schwarz.
    Als Shan wieder zu Bewußtsein kam, war es immer noch schwarz um ihn herum. Er befand sich in einem kleinen dunklen Raum, der nach Exkrementen stank. Sein Kopf pochte vor Schmerz. Mit den Händen ertastete er einen rutschigen Zementboden, der sich zur Mitte hin nach unten wölbte und genau im Zentrum ein Loch von etwa zehn Zentimetern Durchmesser besaß. Eine Toilette.
    Aus dem Loch drang ein wenig Helligkeit herauf, was bedeutete, daß der Abfluß nach draußen mündete. Shan wußte, daß man die Exkremente dort in einem kleinen Faß auffing und sie später als Dünger auf die Felder verteilte. Er versuchte aufzustehen, aber ihm wurde schwindlig, und er schaffte es nur bis auf die Knie. Sein Kopf schmerzte nun an zwei Stellen: nach dem jüngsten Schlag am Hinterkopf und seit dem Sturz im Sandsturm an der Schläfe. Er preßte beide Hände seitlich ans Gesicht, beugte sich vor und rang in dem scheußlichen Gestank nach Luft. Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach. Immer noch

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