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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sie das Stück Holz plötzlich auf den Tisch und verschränkte die Hände darüber. »Das liegt an den Gratifikationen«, sagte sie leise.
    »Gratifikationen?«
    »Sie haben Kos Memo gesehen. Leistungsprämien. Das ist die neue Welt, Genosse.« Sie klang wenig überzeugt. »Die Marktwirtschaft kommt nach Yutian und vereint in sich das Beste des Kapitalismus mit den Lehren des Sozialismus.«
    »Dann ist es wohl die chinesische Prägung, die mich verwirrt«, erwiderte Shan. Man hatte diesen Wahlspruch seit Jahren überall in China aufgemalt, auf Transparente gedruckt und in Wände gemeißelt. Strebt nach einem Sozialismus chinesischer Prägung. »Aber bei Ko war lediglich von CD-Playern für Schüler und Lehrer die Rede.«
    »Das ist längst noch nicht alles. Die ganze Brigade ist nach diesem System organisiert. Man hat sich dort völlig vom Kapitalismus anstecken lassen«, sagte die Anklägerin verbittert. »Jeder Mitarbeiter wird für das Erreichen gewisser Ziele mit Prämien belohnt.«
    »Was für gewisse Ziele?«
    »Wenn jemand nicht registrierte Schafe bringt, fünfzig Renminbi. Für nicht registrierte Hirten, die man in Brigademitglieder umwandeln kann, gibt es fünfhundert Renminbi. Und wer illegal praktizierende Religionsanhänger dazu bewegt, sich überprüfen und lizenzieren zu lassen, bekommt dreitausend Renminbi, zur Hälfte in bar, zur Hälfte in Brigadeanteilen.«
    »Ein Kopfgeld.« Shan stieß das Wort wie einen Fluch hervor. Für die meisten Bewohner dieser Region bedeuteten dreitausend Renminbi mehr als ein Jahreseinkommen.
    »Eine Leistungsprämie. Damit das Unternehmen beständig wächst«, sagte die Anklägerin mit hohler Stimme.
    Shan stützte die Ellbogen auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen. Was hatte Marco an jenem ersten Tag in Karatschuk gesagt? Das Paradies der Arbeiterklasse wird jeden Tag prächtiger. Shan blickte wieder auf. »Wer kommt für eine solche Ehrung in Betracht?«
    »Anfangs nur die Angehörigen der Brigade. Es ist eine Privatfirma; sie können mit ihrem Geld nach Belieben verfahren.«
    »Wieso anfangs?«
    »Weil die Bedingungen sich vor einem Monat geändert haben. General Rongqi ist sehr einflußreich und wird in einem Jahr vermutlich an der Spitze der Brigade stehen. Er hat eine Telefonkonferenz mit Ko, mir und der Öffentlichen Sicherheit arrangiert. Bao konnte nicht kommen, also hat er Sui geschickt. Der General bat darum, die Schlüsselpersonen der Vollstreckungsorgane Yutians an dem Programm teilhaben zu lassen. Ich habe abgelehnt. Ich sagte ihm, die Angestellten des Justizministeriums seien nicht bestechlich. Zum Glück war Bao nicht dabei. Der Major wäre aus der Haut gefahren.«
    Aber Sui hatte das Angebot heimlich angenommen, erkannte Shan. Und sogar Bao war dem Programm letztendlich beigetreten, wie sehr Rongqis Vorschlag ihn zunächst auch verärgert haben mochte. Jeder hatte seinen Preis. Bao war nicht als Suis Vorgesetzter, sondern als Suis Konkurrent an der Sache beteiligt gewesen. Und falls er selbst den Leutnant ermordet hatte, würde das sein mangelndes Interesse an entsprechenden Ermittlungen erklären, wenngleich immer noch nicht klar war, weshalb Ko ihm den Wagen überlassen hatte.
    Xu seufzte. »Rongqi behauptete, unsere Teilnahme würde das Programm zur Beseitigung der Armut beschleunigen helfen. Die Behörden würden auf diese Weise die Brigade unterstützen, und die finanziellen Mittel entstammten sowieso dem Vermögen der Brigade.«
    »Mancherorts, Genossin Anklägerin, sieht es so aus, als besäße die Brigade bereits behördliche Amtsgewalt, nur ohne all die Vorschriften.«
    Die Bemerkung schien Xu zu kränken. Sie stützte das Kinn auf die Hände. »Sie wissen, wie Kampagnen funktionieren, Genosse Shan«, sagte sie mürrisch. »Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück.«
    Sie hatte ihn beim Namen genannt. Es verwirrte ihn.
    »Sie haben gar keine Theorie«, sagte sie. »Sie sind der Meinung, alle Behördenvertreter seien schuldig, nicht wahr?« Ihre Stimme klang nicht etwa vorwurfsvoll, sondern gereizt. »Wegen allem, was die Regierung Ihnen angetan hat.«
    Lange Zeit herrschte Schweigen. Draußen auf dem Platz ertönte eine barsche Stimme aus den Lautsprechern und verkündete eine Ausgangssperre.
    »Warum sind Sie schon so lange hier, Genossin Anklägerin?« fragte Shan schließlich. »Zwölf Jahre in Yutian sind eine Ewigkeit.«
    »Ich kann hier etwas bewirken«, entgegnete sie floskelhaft. »Wir haben historische Fortschritte

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