Das Auge von Tibet
Gesundheitsprobleme verschaffen.«
Fat Mio und Shan sahen sich an. »Seit wann?« fragte der Uigure. »Wann haben diese Befragungen angefangen?«
»Vorgestern.«
Vorgestern. Der Mord an Khitai lag drei Tage zurück.
»Was für Fragen?« drängte Fat Mao. »Was genau will man über die Neugeborenen wissen?«
Verwirrt schaute Mao der Ochse von dem Uiguren zu Shan. »Ich war nicht dabei. Die Informationen stammen von der kasachischen Krankenschwester. Ko sagte, der wichtigste Anhaltspunkt sei die Vorgeschichte der Eltern.«
»Ich muß diese Klinik aufsuchen«, erklärte Shan. Aber die Maos ignorierten ihn.
»Die Vorgeschichte frischgebackener Eltern«, murmelte Fat Mao wütend.
Mit eiskaltem Schauder erinnerte Shan sich, auf welche Weise der Streit um die Reinkarnation des Pantschen Lama verlaufen war. Die Regierung hatte sorgfältig abgewartet, bis ein Baby zur Welt kam, dessen beide Eltern Parteimitglieder waren. Vielleicht hatten Kos Fragen nichts zu bedeuten.
Vielleicht besagten sie aber auch, daß General Rongqi tatsächlich in die Sache verwickelt war und bereits nach dem neuen Yakde Lama suchte, einem der Brigade ergebenen Lama, den man präsentieren konnte, sobald man den Jadekorb in die Finger bekam.
»Namen«, sagte Fat Mao mit plötzlicher Eindringlichkeit und begann zu erklären, wie die Maos sich Zugriff auf die Daten verschaffen sollten, die Ko derzeit sammelte. Shan hörte ihm einige Minuten zu und behauptete dann, er würde nach oben gehen, um draußen frische Luft zu schnappen.
Er ging gemächlich, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und blieb vor einigen Schaufenstern stehen, um abzuwarten, ob ein eventueller Verfolger sich darin spiegeln würde. Dann benötigte er eine weitere Viertelstunde, bis er die gewünschte Tür gefunden hatte. Er wartete im Schatten einer Gasse ab und schaute sich abermals um, bevor er hinüberhuschte - zum Hinterausgang des alten Palastes, der nun die Dienststelle des Justizministeriums beherbergte.
Er betrat einen dunklen Flur und kam an der schmalen, halboffenen Tür eines Abstellraums vorbei, aus dem es nach Putzmitteln roch. Dann folgte eine zweite, breitere Tür mit Doppelriegelschloß. Shan atmete tief durch, stieß die dritte Tür am Ende des Gangs auf und betrat die Eingangshalle. Der kahlköpfige Mann saß auf der Kante seines Schreibtisches und las in einer Zeitung. Als er Shan sah, riß er verblüfft die Augen auf. Dann eilte er unverhofft flink auf Shan zu, packte ihn am Handgelenk und schob ihn zurück in den Schatten des hinteren Korridors. Doch weder schlug er nach Shan, noch rief er um Hilfe. »Warten Sie hier«, flüsterte der Mann statt dessen und warf einen Blick über die Schulter. Shan nickte. Der Mann ließ ihn los und rannte hinaus in die Halle.
Fünf Minuten später kehrte er mit der Anklägerin Xu zurück, öffnete die verriegelte Tür und betätigte einen Lichtschalter. Xu bedeutete Shan, er möge eintreten. Die Luft roch schal. Es war ein fensterloser Raum, in dem ein Metalltisch und vier metallene Stühle standen. Eine einzelne Glühbirne wurde durch einen Drahtkorb geschützt. Auf einem Regal an der Rückwand sah Shan eine Blechschüssel, eine Fliegenklatsche, eine Rolle dickes Isolierband und mehrere lange Holzleisten von der Größe eines Lineals. Ein Verhörzimmer.
Xu nickte, und der kahlköpfige Mann schloß die Tür, so daß Shan und die Anklägerin allein im Raum zurückblieben. Die Tür erbebte leicht, und Shan erkannte, daß der Mann sie nicht abgeschlossen, sondern sich dagegen gelehnt hatte. Xu setzte sich auf den Stuhl, der dem Ausgang am nächsten stand. Shan nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz.
»Laut den Computern der Öffentlichen Sicherheit ist Sui auf Heimaturlaub«, verkündete Xu lakonisch.
»Haben Sie Bao gefragt, wieso er behauptet hat, Sui sei versetzt worden?«
Statt einer Antwort warf Xu ihm einen verärgerten Blick zu. Natürlich nicht, las Shan ihrem Gesicht ab. Weil sie Bao nicht um Erlaubnis gebeten hatte, seine Dateien einsehen zu dürfen. Er sah sich noch einmal im Zimmer um. Xu versteckte sich; sie wollte nicht, daß Shan gesehen wurde. Jeder in Yutian hatte Geheimnisse. Und jeder bespitzelte den anderen.
»Bao hat Laus Akte erweitert«, sagte Xu. »Er hat zwei weitere Zeugenaussagen hinzugefügt.«
»Soll das heißen, es ist jetzt Baos Untersuchung? Ein simpler Vermißtenfall?«
»Die Öffentliche Sicherheit ist befugt, die Ermittlungen nach eigenem Ermessen zu übernehmen. Vorgestern
Weitere Kostenlose Bücher