Das Auge von Tibet
sich vorzustellen, wie die Welt wohl zu Lebzeiten der versteinerten Pflanzen und Tiere ausgesehen hatte. Sie folgten dem Verlauf einer holprigen Straße, die vor mehr als dreißig Jahren für die Fördermannschaften angelegt worden war. Der Weg führte sie quer durch eine unwirtliche Geröllebene, auf der an einigen Stellen zähe, gedrungene Sträucher wuchsen. Im Windschatten der Felsen hatte sich Sand aufgetürmt. Von den Kuppen der niedrigen Hügel aus konnte Shan in der Ferne bisweilen die endlos weite Fläche der weißen Takla Makan sehen.
Als die Sträucher immer seltener wurden und der öden Wüstenlandschaft wichen, hielt Jakli den Lastwagen an, den Fat Mao ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und ließ ein wenig Luft aus den Reifen, um die Griffigkeit der Räder im Sand zu verbessern. Dann stieg sie wieder ein, bog von der Straße ab, fuhr den Kamm der parallel verlaufenden Düne hinauf und hielt sich für weitere anderthalb Kilometer in einer Rinne zwischen den Sandhügeln, bevor sie eine zweite Düne überquerte und in ihrem Schatten stehenblieb.
Sie stiegen aus, und Jakli führte Shan etwa fünfzig Meter die Düne entlang und dann auf eine flache Anhöhe. Dort hielten sie inne und ließen den Blick über eine langgestreckte Senke inmitten der hohen Sandberge schweifen. Am Rand der Mulde ragten vereinzelte Felsformationen auf, und im Süden konnte man eine Ansammlung von Zementfundamenten erkennen, zwischen denen mehrere sonnengebleichte Balken im Sand steckten. Es mußte sich um die Ruinen des Öllagers handeln. Dahinter, ganz am südlichen Ende der Senke, schwankte das Holzskelett eines Hauses im Wind, und wiederum fünfzig Meter weiter deutete eine Lücke zwischen den umliegenden Dünen auf die Einmündung der Straße hin. Überall auf dem Gelände standen kleinere Gebäude, die wie Geräte- oder Maschinenschuppen aussahen. Das größte davon, das problemlos einen Kipplaster aufnehmen konnte, bestand aus groben Steinen und besaß ein zweiflügeliges Tor aus verrostetem Metall. Es hatte dem rauhen Wüstenklima besser standgehalten als die anderen Gebäude. Am Fuß der gegenüberliegenden Düne befand sich eine weitaus ältere Ruine, ein Steinfundament mit einer teilweise erhaltenen Lehmziegelmauer, dessen Holzbalken man zweifellos schon vor langer Zeit als Brennmaterial verfeuert hatte. Im Norden, etwa dreihundert Meter entfernt, lag die Wüste, nur unterbrochen durch einen einzigen kleinen Flecken Gestrüpp. Shan blickte nach Süden auf die fernen Gipfel des Kunlun, wo Jowa und ein Führer der Maos sich derzeit aufhalten mußten. Der Tibeter wollte zu Khitais Grab beim Lamafeld, falls Gendun und Lokesh dort auftauchen würden.
Eine kleine Windhose zog durch die Senke. Über ihnen schwebte ein großer Vogel, ein Aasfresser.
»Niemand da«, sagte Jakli, doch noch während sie sprach, drückte Shan sie zu Boden und deutete stumm auf die Straße am Ende der Mulde, wo auf dem Kamm der Düne soeben ein Mann und ein Hund aufgetaucht waren.
Shan und Jakli preßten sich flach auf den Sand und beobachteten, wie der Mann sich umdrehte und jemanden heranwinkte. Kurz darauf konnten sie drei weitere Gestalten ausmachen: einen weiteren Mann sowie zwei Jungen in der dunklen, dick gefütterten Kleidung der Hirten.
Sie sahen zu, wie die Kinder die Düne herunterliefen und die Garage ansteuerten, das intakte Gebäude im Zentrum. Einer der Männer folgte ihnen.
»Das ist Kaju«, stellte Shan fest. »Aber wer ist der andere?«
»Akzu!« rief Jakli und rannte los.
Shan folgte ihr zögernd und ließ dabei Akzu und den Hund nicht aus den Augen. Der Kasache konnte sie warnen, falls jemand anders sich näherte. Doch selbst wenn er das tat, wohin sollten sie gehen? Es gab hier keine Verstecke.
Sie erreichten das Gebäude gleichzeitig mit den Kindern. Einen Moment später traf Akzu ein, umarmte Jakli zur Begrüßung und wandte sich dann den Jungen zu. Einer der beiden war Batu, der Jakli schüchtern musterte und dann ziemlich sachlich erklärte, im Traum habe ein wunderschönes Pferd zu ihm gesprochen und ihm gesagt, daß er als ältester Angehöriger der zheli nun die Verpflichtung hätte, die anderen Kinder zu beschützen. Akzu nickte wortlos, als sei ihm die Macht derartiger Träume vertraut. Der zweite Junge wurde als Jengzi vorgestellt, was auf eine tibetische Abstammung hindeutete. Der Kleine lächelte scheu und warf einen Stein gegen das Metalltor. Er stand dicht neben Kaju, als seien Shan und Jakli ihm nicht ganz
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