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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gemacht habe, um das Tier dann hineinrutschen zu lassen. Aber im letzten Moment gab die Erde nach, und das Pferd fiel auf ihn. Es hat ihn getötet. Meine Tante sagte, man solle ihn dort lassen, denn es sei richtig, die beiden im selben Grab zu bestatten. Bei der Trauerfeier sagte mein Vater, daß Zhylkhyshy Ata, der Pferdegott, meinen Onkel abberufen habe, damit er sich um die Herde im Himmel kümmern würde.«
    Als Shan sie ansah, bemerkte er, daß Jaklis Blick eher zweifelnd als traurig wirkte. »Es kommt mir so vor, als würde ich einfach alle im Stich lassen«, sagte sie. »Als würde ich nur an mich selbst denken.«
    »Der Clan des Roten Steins geht auch von hier weg.«
    »Ich meine alle Kasachen. Ich meine die Maos und die purbas . Sehen Sie doch nur, welche Opfer die Amerikaner gebracht haben, um herzukommen und zu helfen. Ich fühle mich, als würde ich genau das Gegenteil tun.«
    »Sie laufen nicht davon«, sagte Shan, aber Jakli reagierte nicht darauf. Er kniete nieder und half ihr, das Grab zu säubern.
    Als sie fertig waren, bedankte sie sich und bat ihn, sie allein zu lassen. Er ging erst, nachdem sie ihm versprochen hatte, rechtzeitig für ihr neues Hochzeitskleid aufzubrechen. »Aber nur, wenn Sie auch kommen«, sagte sie und schien für einen Moment wieder ganz ausgelassen zu sein. »Reiten Sie in die Stadt. Gehen Sie zu Mao dem Ochsen. Er wird Sie zum nadam bringen. Er ist ein guter Kasache.«
    »Das kann ich nicht. Ich muß mit den Jungen über Micah sprechen. Wir müssen ihn finden und sicherstellen, daß er außer Gefahr ist.«
    »Solange seine dropka -Familie sich versteckt, wird kein Kriecher ihn jemals finden. Und Marco.«, fügte sie etwas ernster hinzu, »Marco wird mit Lokesh und Ihrem Lama beim nadam auftauchen. Oder er wird wissen, wohin wir mit den Maos aufbrechen müssen, um sie zu retten.«
    Shan traf den kräftigen Kasachen in dem Restaurant in der Stadt an, bat jedoch nicht sofort darum, zum Reiterfest gebracht zu werden. Statt dessen ließ er den Mao eine Wegskizze anfertigen und brach dann zu Fuß in Richtung Stadtrand auf, wobei er sich stets im Schatten hielt und sorgfältig die Einsatzkommandos mied. Manchmal suchte er kurz in Hauseingängen Zuflucht, wenn der Wind ihm den Sand so fest ins Gesicht peitschte, daß ihm die Wangen weh taten.
    Die Volksklinik Yutian war ein heruntergekommenes, eingeschossiges Lehmziegelgebäude mit Wellblechdach, vor dessen Eingang ein Lastwagen mit der verblichenen Kennzeichnung eines Krankenwagens stand. Das Fahrzeug schien schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Seine Reifen waren platt, die Karosserie verrostet. Auf dem Fahrersitz saß ein kleines Mädchen und spielte am Lenkrad herum. Als Shan vorbeikam, duckte es sich.
    Im Innern sah es auf den ersten Blick so aus, als wäre auch das Krankenhaus längst außer Dienst gestellt worden. Als Shan die Eingangshalle betrat, ließ der Luftzug Sand aufwirbeln. Mitten auf dem Boden lag ein magerer Hund, der kurz den Kopf hob und gleich wieder einschlief. Zu beiden Seiten zweigten Gänge ab, wovon der linke durch eine zweiflügelige Schwingtür mit Gummidichtung geschützt wurde.
    Als Shan durch die Tür trat, stieg ihm beißender Ammoniakgeruch in die Nase. Außer ihm befand sich nur noch eine grauhaarige Frau auf dem Flur, die damit beschäftigt war, den Boden zu wischen. Sie schaute auf und packte ihren Schrubber fest mit beiden Händen, als würde Shan versuchen wollen, ihn ihr zu entreißen. Vorsichtig ging er den Korridor entlang, hielt nach einer verriegelten Tür Ausschau und warf einen kurzen Blick in jedes der Zimmer. Von den zehn Räumen dieses Flügels waren sechs belegt, davon einer durch eine schlafende Krankenschwester, aber keine der Türen besaß ein Schloß.
    In dem anderen Gang fand Shan, wonach er suchte. Eine Tür mit einem Schloß, hinter der man eine kleine Station mit sechs Betten eingerichtet hatte. Nur eines der Betten, ganz hinten, war belegt. Man hatte den alten Wasserhüter daran festgebunden. Ein Ende einer langen elastischen Bandage, wie man sie bei Verstauchungen benutzte, war am Bettgestell befestigt. Mit dem anderen Ende hatte man die Hände des Lama gefesselt. Der Wasserhüter hatte die Bandage weit genug gedehnt, um sich im Lotussitz am Boden niederlassen zu können. Aber er meditierte nicht, sondern starrte neugierig ein zwei Meter entferntes Fenster an. Es war durch ein Vorhängeschloß gesichert.
    Als Shan neben ihm Platz nahm, nickte der Mann einfach nur,

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