Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
als habe er den Besuch erwartet. Dann deutete er mit den gefesselten Händen auf das Fenster. »Wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht, drückt er an der oberen Ecke ein kleines Rinnsal Sand herein«, sagte der Wasserhüter mit krächzender Stimme. »Falls niemand etwas dagegen unternimmt, wird in ein paar Monaten mitten über mein Bett eine Düne verlaufen.« Er klang sehr ehrfürchtig, als sei der Sand etwas besonders Schönes und sein Bett dazu ausersehen, darunter begraben zu werden.
    »Rinpoche«, drängte Shan, »gibt es hier einen Wachposten?« Die Fingerspitzen des Mannes waren blau angelaufen. Shan fing an, die Fesseln zu lösen. »Ich kann dich zurück nach Rabennest bringen«, erklärte er hastig.
    »Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen«, sagte der alte Lama heiter und gelassen.
    Shan hielt inne und starrte ihn an.
    Plötzlich hörte er jemanden über den Korridor laufen, und dann stürzte Fat Mao keuchend herein, dicht gefolgt von Mao dem Ochsen, der die Tür sofort schloß und sich dagegen stemmte, als wolle er jemanden aufhalten. Fat Mao eilte wortlos zum Fenster und bog mit einem mitgebrachten Schraubenzieher eilig die Öse auf, an der das Vorhängeschloß hing. Dann riß er das Fenster auf und winkte Shan heran. Noch bevor Shan reagieren konnte, packte Mao der Ochse ihn am Kragen, zog ihn hoch und zerrte ihn zum Fenster. Die beiden Männer hoben ihn nach draußen, ließen ihn auf den Sand fallen und sprangen selbst hinaus. Fat Mao schloß das Fenster und führte Shan um die hintere Ecke des Gebäudes, wo an einer offenen Tür eine Krankenschwester stand und sie bereits erwartete.
    Kurz darauf beobachteten sie aus einem leeren Zimmer, wie der Wasserhüter von zwei Soldaten der Kriecher nach draußen geführt wurde. Die elastische Bandage hatte man durch eiserne Handschellen ersetzt.
    Hinter dem Lama erschien eine untersetzte, zufrieden grinsende Gestalt: Bao Kangmei. Er rief den Soldaten etwas zu, worauf sie stehenblieben, so daß der Major den Wasserhüter umkreisen konnte. Im Blick des Lama lag keinerlei Furcht. Er musterte Bao interessiert und neugierig.
    »Bao weiß nichts Genaues«, erklärte Fat Mao. »Er wird ihn ins Lager Volksruhm mitnehmen und in eine der Zellen stecken, die den Kriechern dort zur Verfügung stehen.«
    Shan empfand diese Mitteilung jedoch als wenig tröstlich. Der Wasserhüter war kein Gefangener der Anklägerin oder der Brigade mehr. Major Bao würde bald herausfinden, welcher der von ihm verhafteten alten Männer der Lama war, auf den sich das subversive tibetische Gedicht bezog.
    Bao stemmte die Arme in die Seiten und schaute zum Eingang der Klinik, als wünsche er sich ein größeres Publikum. Dann schickte er die Männer mit einer schroffen Geste weg. Sie schoben den Lama in ihren Wagen und fuhren mit hoher Geschwindigkeit davon. Shan sah dem Fahrzeug trübsinnig hinterher und mußte an die Worte des Wasserhüters denken. Es muß einen Spalt geben, sonst kann nichts eindringen. Er kannte diesen Satz aus einer Lehrstunde, die ein anderer Lama in der Baracke des Straflagers abgehalten hatte. Der Wasserhüter hatte nicht den Sand gemeint, sondern die Erleuchtung. Nur die Erleuchtung kann uns retten, sagte er. Die Erleuchtung, die durch einen bislang nicht existenten Spalt in die dunklen Tiefen vordringt.
    Als der Geländewagen der Kriecher wegfuhr, wurde die Sicht auf einen kleinen roten Sportwagen freigegeben. Bao zündete sich eine Zigarette an, ließ mit zufriedenem Lächeln den Blick über die Landschaft schweifen und schaute dann zur Klinik. Schließlich schritt er zur Fahrertür des roten Sportwagens. Nicht weit entfernt überquerte ein Käfer die Straße. Bao ging zu ihm, beugte sich vor, um ihn in Augenschein zu nehmen, richtete sich wieder auf und zerquetschte ihn mit einem kurzen, heftigen Stiefeltritt.
    Am späten Vormittag des nächsten Tages stiegen Shan und Mao der Ochse auf dem flachen Kamm eines hochgelegenen Berggrats von ihren Pferden. Die Aufwinde ließen hier vertrocknete Herbstblätter in der Luft schweben, so daß sie wie kleine Farbflecke auf der Himmelspalette wirkten. Der Kasache hatte auf einen Reiter gedeutet, der ihnen auf dem Bergrücken entgegenkam. Es handelte sich um Akzu, gekleidet in eine rote Weste, die mit den Abbildern von Pferden und Vögeln bestickt war, wie Shan wenig später erkannte.
    Der Clanälteste lächelte, als er ebenfalls vom Pferd stieg. »Alle Jungen der zheli sind in Sicherheit. Der besagte

Weitere Kostenlose Bücher