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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Rongqi Geschäftspartner. Bao beschützt Ko, wenigstens vorerst.«
    »Lächerlich! Bao und Ko sind völlig verschieden und nie gut miteinander ausgekommen. Ich kenne die beiden, seit sie hier in Yutian eingetroffen sind.«
    »Ich habe eines der Banner des Programms zur Beseitigung der Armut gesehen«, sagte Shan. »Vereinigt euch zugunsten des wirtschaftlichen Erfolgs. Ich glaube, daß Rongqi ein Band zwischen den beiden geknüpft hat, ein gemeinsames Interesse.«
    »Etwa die Suche nach Ihrem Kinder-Lama?« fragte Xu skeptisch. »Sie reden hier von der Brigade, einem der größten Unternehmen Chinas, und vom Büro für Öffentliche Sicherheit.«
    »Nein. Nicht vom Büro, nur von zwei abtrünnigen Offizieren. Sui hat seine Machenschaften vor Bao geheimgehalten. Er hat erst Lau ermordet und dann versucht, den Jungen möglichst noch vor Ko zu finden. Dabei kam er dem Hauptgewinn ein wenig zu nahe und wurde deshalb von Ko ermordet. Als Bao später herausbekam, was geschehen war, trat er an Suis Stelle. Vereinigt euch, um die Kopfgelder zu maximieren. Wenn sie zusammenarbeiten, können sie wesentlich mehr Geld einstreichen. Rongqi hat zudem die Prämien so deutlich erhöht, daß jemand wie Bao, der mit dem Gehalt eines Kriechers in Yutian festsitzt, sie nicht länger ignorieren konnte. Und für jemanden, der Kinder für Geld tötet, wäre die Fälschung der Ermittlungsakte im Fall Lau eine Kleinigkeit.«
    Shan seufzte matt. »Verhaften Sie alle beide. Man wird Sie dafür als Heldin verehren.«
    Xu verzog das Gesicht. »Es gibt noch immer keine stichhaltigen Beweise.«
    »Ein Toter im Leichenschauhaus ist ein guter Anfang. Und es existiert ein Zeuge für den Mord an Sui; er versteckt sich derzeit in den Bergen.« Shan sah die Anklägerin durchdringend an. »Sie meinen doch nur, es gäbe bislang keine politische Erklärung.«
    Xu blieb stumm und schaute hinaus auf das Gräberfeld. Der Wind ließ Sandschwaden über den Friedhof wehen.
    »Korruption ist ein politisches Delikt«, gab Shan zu bedenken. »Bringen Sie Rongqi zu Fall, und Sie werden Xinjiang verlassen können.«
    Sie verzog wieder das Gesicht. »Ich brauche Unterlagen. Ich brauche Dokumente. Ich brauche Beweise. Es ist kein Verbrechen, aus privater Tasche Leistungsprämien anzubieten.«
    »Aber ein Kopfgeld für den Mord an einem Jungen ist keinesfalls legal.«
    Xu schüttelte den Kopf. »Es genügt ein Wort von Rongqi an eines der Einsatzkommandos, und wir alle landen womöglich im lao gai. Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich könnte dem General etwas anhaben.«
    Shan starrte sie an. Ihre Augen blieben so hart wie Kristalle, aber sie wich seinem Blick aus. »Doch, das glaube ich. Ich schätze, Sie haben bloß Angst.«
    »Als nächstes wird er ein Kopfgeld auf widerspenstige Anklägerinnen aussetzen.«
    »Nein, es ist nicht Rongqi, den Sie fürchten. Ich glaube, in Wahrheit fürchten Sie sich nur vor einer einzigen Sache.« Sie sah ihn an. »Sie haben Angst, so wie ich zu enden.«
    Xu stieß ein Geräusch aus, das als Lachen anzufangen schien, dann aber eher einem Wimmern glich.
    »Es ist möglich, diesen Leuten die Stirn zu bieten«, fuhr er fort. »Aber falls Sie das tun, besteht gleichzeitig die Chance, mein Schicksal zu erleiden.« Er sprach in sachlichem Tonfall, als ginge es um irgendeine merkwürdige niedere Lebensform und nicht um ihn selbst.
    Die Anklägerin erhob sich abrupt und ging entlang einer der Gräberreihen davon. Die Sonne würde bald hinter den Bergen versinken. Der Wind frischte auf, änderte die Richtung und brachte den beißenden Geruch der Sträucher mit sich, die im Randgebiet der Wüste wuchsen. Es war kühl, beinahe kalt, was auf den bevorstehenden Wechsel der Jahreszeiten hindeutete.
    Shan folgte der Anklägerin, blieb jedoch zwei Meter hinter ihr stehen und beugte sich zu einem Grab hinab, um die vertrockneten Blätter wegzuräumen, die sich dort im Winkel angesammelt hatten. Die meisten Chinesen wußten schon längst nicht mehr, was Chen Ming bedeutete, jener traditionelle Festtag, an dem man die Gräber der Vorfahren pflegte und einen Weidenzweig über die Haustür hängte, um böse Geister zu vertreiben. Als die Regierung verfügte, es solle keine dauerhaften Grabstätten mehr geben, wurde der Festtag dadurch de facto abgeschafft. Einmal hatte Shan seinen Vater dabei überrascht, wie dieser einen winzigen Weidenzweig am Türrahmen ihrer Wohnung befestigen wollte. Sein Vater hatte einen unbeholfenen Scherz darüber gemacht und war

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