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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weggegangen. Doch am nächsten Morgen hing der Zweig über der Tür.
    »Man wird Ihnen in den nächsten paar Stunden ein Verbrechen melden«, sagte er laut und arbeitete dabei weiter. »Bao hat dafür gesorgt. Jemand wird behaupten, in den Bergen sei wieder ein Junge angegriffen oder sogar ermordet worden. Genau die Art von Meldung, auf die das Büro der Anklägerin reagieren muß. Sie werden entweder sofort oder spätestens im Morgengrauen aufbrechen müssen.«
    Xu ließ nicht erkennen, ob sie ihn gehört hatte, sondern ging weg. Einige Minuten später tauchte sie auf der anderen Seite des Grabes auf, vor dem Shan stand. »Glauben Sie, es ist eine Falle?«
    »Nein, ein Ablenkungsmanöver. Bao und Ko haben nämlich geplant, sich morgen vormittag den letzten der Jungen zu schnappen. Den Jungen, der den Jadekorb hat. Es paßt hervorragend zum Besuch des Generals. Endlich der Volltreffer, genau rechtzeitig zu seiner Ankunft.«
    »Der General ist bereits seit heute nachmittag hier«, sagte Xu.
    »Man hat ihn in einem besonderen Gästehaus der Brigade untergebracht. Seine Leibwache besteht aus Angehörigen der Einsatzkommandos.«
    Shan seufzte. »Perfekt. Verhaften Sie alle auf einmal.«
    »Das ist doch Irrsinn«, rief sie. »Sie haben jegliches Verständnis für die Bande zwischen Regierung und Volk verloren.« Die Worte klangen gezwungen und leer.
    Shan sah sie schweigend an.
    »Sie sind schon viel zu lange in Tibet gewesen«, hielt die Anklägerin ihm vor.
    »Ich habe kürzlich etwas über die Bande zwischen Regierung und Volk gelesen«, erwiderte er. »Man nennt es das Lotusbuch.«
    Die Worte riefen eine erstaunliche Reaktion hervor. Xu schien für einen Moment den Atem anzuhalten. »So ist es aber nicht«, widersprach sie schließlich mit angespannter Stimme.
    »Wer im Gefängnis sitzt, wacht immer völlig lautlos auf«, sagte Shan in Richtung Horizont. »Die Leute lernen dort, sogar in ihren Alpträumen nur stumme Schreie auszustoßen, weil sie wissen, was die Wachen ihnen antun, sobald es ein Geräusch gibt.« Die Frau, die ihn nun ansah, war nicht die Anklägerin, sondern jemand, den er bislang noch nicht kannte. Ihre versteinerte Miene schien in Stücke gebrochen zu sein. »Doch eines Tages wurde ich vom Klang einer wunderschönen Glocke geweckt. Nicht laut, aber rein und wohltönend - ein perfektes Geräusch, das in meinem ganzen Körper widerhallte. Später fragte ich einen Lama, wer denn die Glocke geläutet habe. Er sagte, es gäbe überhaupt keine Glocke. Er habe im Morgengrauen lediglich beobachtet, wie ein einzelner Tropfen Wasser vom Dach in meinen Blechnapf fiel. Es sei einfach nur die Art von Klang gewesen, die meine Seele in jenem Moment habe wahrnehmen wollen.«
    »Das verstehe ich nicht«, flüsterte Xu, ohne ihren Blick von den Gräbern abzuwenden.
    »Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, wie sehr Tibet einen Menschen verändert. Es läßt ihn die Dinge anders betrachten oder hören. Es prägt ihn, es brennt sich in seine Seele ein. Und manchmal brennt es sich auch hindurch.«
    Xu drehte ihr Gesicht in den Abendwind. »In diesem Buch.«, sagte sie, als wolle sie zu einer Erklärung ansetzen.
    »Eines sollten Sie wissen«, fiel Shan ihr ins Wort. »Ich habe in dem Buch nichts über Sie gelesen.« Aber er erinnerte sich daran, mit welch sonderbarem Gesichtsausdruck Xu das Kunlun-Gebirge angesehen hatte und wie sehr Tibeter sie zu verunsichern schienen.
    Sie wirkte einen Moment lang erleichtert und wandte sich in Richtung der Treppe. Aber als sie dort ankam, setzte sie sich wieder auf die Bank. Shan widmete sich noch einige Minuten dem Grab, bis er es vollständig gesäubert hatte. Xu saß einfach da und starrte auf die von Unkraut überwucherten Ruhestätten.
    Dann verließ Shan den Friedhof und ging an der Anklägerin vorbei. Er hatte die erste Stufe betreten, als sie das Wort , ergriff. »Es gibt hier dreihundertsiebenundvierzig Gräber«, sagte sie, abermals flüsternd. »Ich habe sie bei einer früheren Gelegenheit gezählt.«
    Er setzte sich auf die Treppe. Ein großer Vogel schwebte, über sie hinweg und ließ sich auf einem fernen Grab nieder. Eine Eule. Die Hüterin der Toten.
    »Ich war erst sechzehn«, brach es aus Xu heraus. »Wir sind mit einer Lastwagenkolonne in Shanghai aufgebrochen und haben unterwegs immer neue Kader aufgenommen. Ich wurde zur Offizierin bestimmt. Ich hatte nicht darum gebeten, aber die anderen behaupteten, ich könne mehr Sprüche des Großen Vorsitzenden

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