Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
auswendig hersagen als alle anderen in meiner Einheit. Unsere Reise dauerte mehrere Wochen. Wir rissen Zäune nieder, um das Vieh zu befreien. Wir verbrannten Schulen, um die Kinder zu befreien. Und wir ließen Bibliotheken in Flammen aufgehen, um das Wissen zu befreien.«
    Die Roten Garden, erkannte Shan. Sie sprach von den Roten Garden und der Kulturrevolution.
    »Als wir nach Tibet kamen, hat man mir einen Bezirk und eine Quote zugewiesen. Zehn Prozent aller Einwohner wurden zu schlechten Elementen erklärt, und es war meine Aufgabe, diese zehn Prozent zu identifizieren, sie Agitationssitzungen zu unterziehen und sie zum Ziel der öffentlichen Kritik zu machen. Der gewaltsamen Kritik. Manchmal der tödlichen Kritik. Gompas mußten niedergerissen werden. Die Reaktionäre waren angemessen zu bestrafen. Vierzehnmal wurden Kinder durch unsere Einheit gezwungen, ihre eigenen Eltern zu erschießen.« Sie hielt inne und ließ den Blick ein weiteres Mal über den Friedhof schweifen, als würde sie in Erwägung ziehen, die Gräber erneut zu zählen. »Wir waren doch selbst noch Kinder. Manchmal rissen sie den Lamas die Kleider vom Leib und ließen die Männer dann nackt auf dem Marktplatz tanzen.«
    »Sie?«
    Xu schwieg. Die Anklägerin fuhr sich mit der Hand über die Lippen. Ihre Finger zitterten. »Wir«, sagte sie schließlich und biß sich auf einen Knöchel. Nach einem Moment zog sie den Finger wieder weg und starrte ihn an, als hätte er ein unerklärliches Eigenleben entwickelt. »Ich wollte aufhören. Ich wollte nach Hause. Ich hatte genug von der Brutalität. Ich machte mir Sorgen um meine Familie. Aber sobald man seine Familie erwähnte, wurde man kritisiert. Das Anzeichen eines Reaktionärs, hieß es. Ein Beleg für die Hingabe an die Tradition der Unterdrückung. Ich konnte nur weitermachen. Man hat mich mehrmals befördert. Hoch in den Bergen gab es ein Kloster, ein großes gompa in der Nähe von Shigatse. Das Revolutionskomitee kam mit Fotografen aus Lhasa, um uns bei der Erfüllung unserer Aufgabe zu beobachten. Wir haben das Kloster umzingelt und Revolutionslieder gesungen. Ich gab den Befehl, es in Brand zu setzen. Es blieb noch genug Zeit. Ich dachte, die Mönche würden herauskommen. Aber das taten sie nicht. Einige von ihnen standen in den Türöffnungen und sahen uns an, während sie verbrannten. Aber die meisten blieben einfach drinnen und sagten ihre Mantras auf. Wir konnten sie lange hören; sie waren lauter als das Tosen der Flammen. Danach fanden wir die Leichen in Reihen vor, weil sie sich in ihrem Heiligtum ordentlich hingesetzt hatten, jeweils im Angesicht ihrer Lamas. Reihen um Reihen, wie auf einem Friedhof. Wir feierten und sangen wieder unsere Lieder. Dreihundertneunundvierzig. Der Vorsitzende hat mir einen Lobesbrief geschickt. So habe ich meine erste Anstellung beim Ministerium erhalten. Weil ich diesen Brief des Vorsitzenden hatte. Darin stand lediglich, ich hätte meine Sache gut gemacht und sei eine vorbildliche Arbeiterin. Daß ich für den Mord an dreihundertneunundvierzig Mönchen belobigt wurde, stand nicht darin.«
    Shan fand keine Worte. Ein Geschichtslehrer hatte einmal zu ihm gesagt, das einzige Problem des modernen China sei die zu hohe Lebenserwartung der Bevölkerung. Zu viele Millionen Menschen würden alt und fingen an, ein Gewissen zu entwickeln. Bei Xu waren die Alpträume schon früh gekommen, und ihr Gewissen hielt sie seitdem gefangen. So ist es aber nicht, hatte sie über das Lotusbuch gesagt. Das sollte heißen: So war es zwar, aber mittlerweile bin ich eine andere Person. Zweifellos war sie ebenso eine Gefangene wie die Leute, die sie in ihr Lager schickte. Im selbstgewählten Exil einer Grenzregion, wo sie glaubte, eventuell etwas bewirken zu können Xu schien gar nicht zu registrieren, daß Shan aufstand und die Treppe hinaufstieg. Er ging an der Limousine vorbei, ohne dem kahlköpfigen Fahrer auch nur einen Blick zuzuwerfen. Dann trat er zu Fuß den Rückweg in die Stadt an, während der Wind den Sand quer über die Straße wehen ließ. Shans Seele war so schwer, daß er befürchtete, vielleicht nie wieder eine Glocke hören zu können.

Kapitel 21
    Der Sand fegte durch die Straßen von Yutian und verhüllte geborstene Rinnsteine, rissige Mauern und andere kleinere Makel. Es war, als wäre die ganze Stadt mit einem feinen Farbnebel besprüht worden, um einen saubereren, vorteilhafteren Eindruck zu erwecken. Vielleicht auf Anweisung des Generals. Aber Shan ließ

Weitere Kostenlose Bücher