Das Auge von Tibet
massiger Mann stolzierte an Kos Seite. Major Bao.
Kaju, der auf halber Höhe der Düne unterhalb von Shan stand, keuchte erschrocken auf und starrte ungläubig auf die andere Seite der Senke. Er warf Shan einen gequälten Blick zu und schaute dann wieder zurück, als eine weitere Person ausstieg, ein hochgewachsener, schlanker älterer Mann von gebieterischer Haltung. Ko reichte ihm diensteifrig ein Fernglas, woraufhin der Mann erst die nahenden Reiter in Augenschein nahm und dann Ko auf die Schulter klopfte. Shan wiederum betrachtete den Fremden durch sein eigenes Fernglas. Er hatte ihn zuvor schon auf dem Foto in Kos Büro gesehen. »Rongqi«, hörte er Kaju hervorstoßen. Es war der General höchstpersönlich, der sich den endgültigen Sieg über die Tibeter nicht entgehen lassen wollte.
»Verdammt, nein!« ertönte hinter ihm Deacons entsetzter Aufschrei. Shan wandte sich um und sah Lokesh und Gendun auf das Ende der Düne zugehen, als wollten sie die Reiter abfangen. Sie winkten die dropkas zu sich heran, als könnte der Felsvorsprung sie noch vor den Männern verbergen. Shan spürte eine Hand auf seinem Arm. Marco wies stumm auf die Zufahrt zum Öllager, wo ein weiteres Fahrzeug aufgetaucht war, eine Limousine. Der Wagen hielt an, fuhr ein Stück rückwärts außer Sicht, und dann trat Anklägerin Xu allein um die Ecke und richtete ein Fernglas auf den schwarzen Geländewagen.
Bao war völlig auf die Reiter fixiert. Er hob die Hand und schien einen Befehl zu erteilen. Die beiden Soldaten der Kriecher liefen zurück zum Wagen.
»Nein!« stöhnte Kaju und torkelte mit schmerzverzerrter Miene vorwärts. Sein Blick wanderte von den Reitern zu dem Geländewagen. Dann schaute er einen Moment auf einen Fleck in der Senke, wo ein paar karge Pflanzen wuchsen, und fing dann an, am Kragen seines Hemds herumzunesteln. Er nahm die Kette ab, die er um den Hals trug, eine Kette, an der ein großes silbernes gau hing.
Er reckte das Medaillon über den Kopf, rannte die Düne hinab, rief erst Kos, dann Major Baos Namen und hielt dabei auf die Mitte der Senke zu, als wolle er sich dort mit dem Geländewagen treffen. Die Männer bei dem schwarzen Fahrzeug starrten kurz in seine Richtung und stiegen schnell wieder ein. Die beiden Soldaten sprangen mit weiterhin schußbereiten Waffen auf die Trittbretter, und Ko fuhr über die Dünenflanke nach unten.
Während Kaju lief, gestikulierte er die ganze Zeit aufgeregt, als müßte er unbedingt mit den Männern sprechen, und schwenkte das gau , als sollte es ihnen bekannt vorkommen. Als wäre es der Jadekorb. Je näher er den Sträuchern kam, desto langsamer wurde er. In zehn Metern Entfernung blieb er kurz stehen und ging dann sehr viel gemächlicher weiter, während er immer noch den Geländewagen zu sich heranwinkte.
Plötzlich wurde Shan alles klar. »Nein!« keuchte er und wollte aufstehen. Doch eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter. Marco drückte ihn nach unten.
»Sie verstehen nicht.«, protestierte Shan. »Er erinnert sich an das Gebüsch. Er hat die Wurzeln zuvor schon gesehen! Deacon!« rief er verzweifelt. Der Amerikaner würde es begreifen.
Kaju hatte die Sträucher erreicht und blieb mitten in der Senke stehen. Er winkte immer noch, und der Wagen beschleunigte. Einen Moment lang drehte der Lehrer sich um und blickte zurück, als würde er nach Shan Ausschau halten. Dann ließ er sich im Lotussitz nieder, umklammerte das gau vor seiner Brust und sah nicht mehr dem Fahrzeug entgegen, sondern gen Himmel.
Deacon erreichte Shan. »Mein Gott!« brüllte er. »Die Zisterne!«
Der Geländewagen hielt neben dem Tibeter, und die Soldaten sprangen ab. Als die Türen sich öffneten, sanken plötzlich die Räder des Fahrzeugs ein, und die Soldaten riefen den anderen hektisch etwas zu. Einer von ihnen schien die Tür des Generals erreichen zu wollen. Dann sanken auch die beiden Männer ein, als würde der Sand sie verschlingen.
Das alles geschah nicht etwa in Zeitlupe, sondern wie beim schnellen Vorspulen eines Films, so daß die Szene vor den Augen der Betrachter zu verschwimmen schien. Die Wüste tat sich auf und zog den Wagen in die Tiefen der uralten Zisterne. Der Sand der Mulde und ein Teil der angrenzenden Dünen wurden scheinbar heftig nach unten gesogen. Für einen Augenblick konnte man einen tiefen Krater erkennen, und Shan glaubte, mehrere Arme und Beine in Sand und Geröll schwimmen zu sehen. Dann rutschten unter schrecklichem Zischen große Stücke der
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