Das Auge von Tibet
Steins. Der eluosi hatte nichts dagegen einzuwenden. »Dieser alte tibetische Jäger an der Grenze, der mit den Fellbooten, er wird sich jetzt nur dazu bereit erklären, wenn ich die Leute persönlich begleite«, sagte er und sah Shan an. »Ich werde Hilfe benötigen.«
Im ersten Moment verstand Shan es nicht. Die Worte klangen nicht spontan. Marco hatte sie sich gut überlegt, und er meinte sie ernst.
»Kommen Sie mit mir, Johnny«, sagte der eluosi auf englisch. »Ich verlasse dieses einsame Land. Ich habe jede Menge Geld auf ausländischen Konten. Wir gehen nach Alaska, fangen riesige Fische und bauen uns ein Blockhaus am Meer.«
Shan öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dann sah er Gendun und Lokesh an und erklärte ihnen alles auf tibetisch, aber die beiden lächelten nur heiter und nickten.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Shan. »Es bleibt keine Zeit.«
Als wäre dies das Stichwort, stieß Kaju einen Ruf aus. Aus der Wüste waren zwei Reiter aufgetaucht und kamen mit einem schwer beladenen Packtier sowie einem zusätzlichen gesattelten Pferd die Düne zu ihnen herauf. »Die Amerikaner«, verkündete Kaju fröhlich, als garantiere die Ankunft von Deacon und seiner Frau auf irgendeine Weise den Erfolg ihres Vorhabens.
Aber Shan sah lediglich auf den Sand zu seinen Füßen. Er erkannte, daß er irgendwie gehofft hatte, das Ehepaar würde nicht hier erscheinen.
Deacons Frau schien vor Energie und Aufregung überzuquellen. Sie hatte ein großes Glas Erdnußbutter mitgebracht. Kaju erklärte Gendun und Lokesh, worum es sich handelte, und ließ sie davon kosten. Die beiden wirkten dabei so neugierig wie Schuljungen.
Warp sprach mit Marco, um sicherzustellen, daß die Taschen auf dem Rücken des Packtiers nicht zu groß waren. Dann strich sie eine kleine Sandfläche glatt, breitete ein Handtuch darauf aus und legte mehrere Dinge bereit. Einen ledernen Baseballhandschuh. Einen kleinen grünen Spielzeuglaster. Eine Packung Kaugummi. Und eine rote Dose, die nach dem langen Transport zerkratzt und verbeult war: eine ungeöffnete Dose mit amerikanischer Limonade. Schließlich band sie eine schmale Holzkiste vom Rücken des Packpferds los, was ihr einen irritierten Blick von ihrem Mann einbrachte, der ansonsten nur dastand und in die Senke hinabstarrte. Warp hob eine kleine Grube dafür aus, so daß die Kiste geschützt war, und nahm dann das Stück Stoff vom Deckel ab. Shan sah, daß man das Holz mit mehreren Luftlöchern versehen hatte. Deacons Insektensänger.
Marco übernahm wie ein Armeeoffizier das Kommando und ließ sie sich alle in den Schatten am unteren Rand der äußeren Dünenflanke zurückziehen. Niemand außer Kaju sollte sich offen auf dem Kamm aufhalten. Jowa wurde mit Gendun und Lokesh sogar noch weiter weggeschickt, bis zu einem kleinen, zweihundert Meter entfernten Felsvorsprung im Norden, der zusätzliche Deckung bot. Falls jemand auf den Jungen losging, würden er und Sophie sich Micah schnappen, kündigte der eluosi an, und dann mit ihm in den lockeren Wüstensand reiten, wohin die Fahrzeuge nicht folgen konnten.
Zwanzig Minuten später tauchten am jenseitigen Ende der Senke, dort, wo die Hügel sich in weniger als anderthalb Kilometern Entfernung abflachten und in die Wüste übergingen, drei berittene Gestalten auf. Shan lag bäuchlings mit dem Fernglas auf dem Dünenkamm und konnte erkennen, daß es sich um zwei Männer in der Tracht der Hirten sowie um einen Jungen handelte, der auf einem Pony zwischen ihnen ritt. Flankiert wurden die Pferde von zwei großen Mastiffs.
»Micah!« rief die Amerikanerin und stand auf, als wolle sie den fernen Reitern entgegenlaufen.
»Warp - nein!« brüllte ihr Mann und zog die Frau zurück hinter die Düne.
Im selben Moment kam auf der gegenüberliegenden Seite der breiten, sandigen Mulde ein Fahrzeug in Sicht. Kein roter Brigadelaster, wie Shan erwartet hatte, sondern einer der schwarzen Geländewagen der Einsatzkommandos. Er fuhr langsam bis auf den Scheitelpunkt der Düne hinauf und hielt an. Vom Fahrersitz stieg jemand mit einer roten Nylonjacke. Auch ohne Fernglas wußte Shan, daß es Ko Yonghong war.
»Diese Mistkerle«, fluchte Marco neben ihm, als die restlichen Türen sich öffneten. Zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Männer in grauen Uniformen rannten zu beiden Seiten jeweils ein halbes Dutzend Schritte weit, ließen sich dann auf ein Knie nieder und hoben die Waffen, als rechneten sie mit einem Angriff. Ein dritter, überaus
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