Das Auge von Tibet
seufzte. »In dem Fall werden die anderen mit dem Jungen und dem Jadekorb die Flucht ergreifen, und ich lenke die Kriecher ab«, sagte er leise, so daß nur Fat Mao ihn hören konnte.
»Wie willst du sie denn ablenken?«
»Bao hat es nicht nur auf das gau oder die Amerikaner abgesehen. Da gibt es noch etwas.«
Fat Mao musterte ihn. »Dich.«
Shan zuckte die Achseln.
»Nicht jeder muß ein Opfer werden«, sagte der Uigure stirnrunzelnd. Es schwang Enttäuschung in seiner Stimme mit, und seltsamerweise klang es wie eine Entschuldigung.
»Halten Sie noch eine Stunde nach dem Jungen Ausschau«, sagte Shan. »Dann fahren Sie zum Lager des Roten Steins. Dort werden Sie heute ebenfalls gebraucht.«
Fat Mao runzelte abermals die Stirn, drehte sich dann um und fuhr los.
Der letzte Tag war gekommen, der Tag, von dem Rongqi und Ko geträumt hatten und der die letzte Stufe des Programms zur Beseitigung der Armut bedeutete. Akzu mußte von dem neuen Plan erfahren. Die Herden des Roten Steins mußten an die Brigade übergeben werden, zusammen mit den Zelten und allem anderen. Für die Clanmitglieder gab es nur eine Möglichkeit, gemeinsam in die Freiheit zu entfliehen, und die bestand darin, alles aufzugeben, was ihnen im Leben etwas bedeutet hatte, außer das Leben selbst.
Gendun legte sich in den Sand und wies fröhlich auf die Formen der Wolken hin. Lokesh breitete, wie so viele Male zuvor, die Habseligkeiten des Yakde Lama vor sch aus und nahm sie eine nach der anderen genau in Augenschein. Sie alle hatten ihre Taschen dabei und waren bereit, den Rückweg nach Tibet anzutreten. Shan brachte ihr altes Fernglas zum Vorschein, säuberte mit einem Hemdzipfel die Linsen und reichte es an Jowa weiter, der auf den Kamm der Düne kroch und Wache hielt.
Eine Stunde später stieß der purba einen leisen Pfiff aus. Auf der Straße war Kaju aufgetaucht, allein und zu Fuß. Sie legten sich auf die Dünenkuppe und beobachteten, wie der Lehrer zu dem Gebäudeskelett ging, das im Wind schwankte, und dort etwas zwischen zwei Pfosten aufspannte. Eine Schnur mit buddhistischen Gebetsfahnen, die, so vermutete Shan, aus Laus Büro stammte.
Der Tibeter stellte sich vor der Schnur auf und betrachtete sie, als hätte er noch nie im Leben eine Gebetsfahne gesehen. Dann drehte er sich um und ging langsam auf die Garage zu. Shan stand auf und winkte, und kurz darauf gesellte Kaju sich zu ihnen.
Er begrüßte sie auf tibetisch, nicht mandarin, und zum erstenmal seit Shan ihn kannte, setzte er das Gespräch auch in seiner Muttersprache fort. Micah habe sich nicht gemeldet, so daß sich keine Gelegenheit ergeben hätte, den Jungen zu warnen, berichtete er. Aber letzte Nacht seien laute Sirenen ertönt, und viele Kriecher hätten eilig die Stadt verlassen. Vielleicht seien sie abgezogen worden oder wenigstens mit etwas anderem beschäftigt. Und womöglich würde Major Bao den einen kleinen Jungen völlig vergessen, wo doch jetzt irgendein Notfall bei der Öffentlichen Sicherheit eingetreten sei.
Sie saßen im Kreis und hörten den Lehrer erzählen, daß er vorhatte, eines Tages mit der gesamten zheli herzukommen und dann wirklich nach Fossilien zu suchen, als jemand eine Plastiktüte Rosinen in ihre Mitte warf. Sie blickten auf und sahen Marcos breites Gesicht, das grimmig, aber entschlossen wirkte.
Er hockte sich neben Shan und nahm eine Handvoll Rosinen. »Sie konnten sich erst nach einer Stunde dazu durchringen, die Häftlinge rauszulassen, um bei der Brandbekämpfung zu helfen«, sagte er emotionslos. »Idioten. Zu dem Zeitpunkt konnte man nur noch Sand auf die Glut schaufeln. Wo das Lagerhaus stand, sind nur noch schwelende Reissäcke übrig.
Das Verwaltungsgebäude ist auch weg. Und sogar das kleine Wachhaus am Tor.« Er klang nicht triumphierend, aber als er Shan ansah, stieg ihm ein seltsames Funkeln in die Augen. »Nikki fand es gut«, fügte er leise hinzu.
Als Kaju aufstand und dem Verlauf des Dünenkamms folgte, um nach Micah Ausschau zu halten, nahm Lokesh den Rosinenbeutel und reichte ihn herum. »Sie werden schon sehen«, rief der Lehrer Shan zu. »Es ist nur Bao allein. Falls er herkommt und versucht, den Jungen in seine Gewalt zu bringen, wird das genau der Beweis sein, den ich brauche, um mich an Ko zu wenden. Ko wird wissen, was zu tun ist.«
Shan und Jowa sahen sich an. Kaju weigerte sich noch immer, die Wahrheit zu akzeptieren.
Während Marco seine Rosinen aß, erklärte Shan ihm den neuen Plan zur Rettung des Roten
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