Das Auge von Tibet
ihm ein Mantra und zeigte auf die Besitztümer, die er für ihn vom Lamafeld mitgebracht hatte. Über die Wangen des alten Tibeters liefen Tränen.
Gendun stand mit großen, traurigen Augen daneben und schaute von Shan zu Khitai und zurück zu den Amerikanern. »Danke, Freund Shan«, sagte er mit zitternder Stimme. »Danke, daß du unseren Yakde Lama von den Toten erweckt hast.«
Kapitel 22
Niemand hatte ursprünglich vorgehabt, beim Steinsee zu verweilen, und doch blieben sie alle noch mehrere Stunden. Shan starrte stumm auf die flache Mulde, die das Grab kennzeichnete. Deacon und seine Frau wollten mit ihrem Schmerz allein sein. Marco machte den jungen Lama mit Sophie bekannt und lud ihn zu einem Ausritt ein. Fat Mao kam, um sich mit dem eluosi zu beraten, sprach jedoch nur kurz mit Jowa und fuhr wieder weg, um die Amerikaner zu dem Grab beim Lamafeld zu bringen. Gegen Mittag tauchten immer mehr Menschen auf, zumeist Kasachen und Uiguren, manche auf Pferden, andere zu Fuß auf dem Weg, der von der Fernstraße abzweigte. Mit fragenden Mienen versammelten sie sich rund um die Einbuchtung im Sand. Shan hörte, daß jemand die anderen auf den heiligen Mann in der Robe hinwies, und viele nickten, als würde Genduns Anwesenheit alles erklären. Aus den Trümmerstücken der Gebäude des Öllagers und der alten Ruinen schichteten sie neben der eingestürzten Zisterne einen kleinen Steinhaufen auf. Shan und Jowa holten die von Kaju aufgespannte Schnur mit den Gebetsfahnen und befestigten sie an der Gedenkstätte.
Der junge Lama schien Shan zunächst auszuweichen, aber schließlich kam er und setzte sich neben ihn, während Shan den Blick nicht von der Stelle abwenden konnte, die Kajus Grab geworden war. Der Junge schien etwas sagen zu wollen, und Shan beugte sich vor, als wolle auch er sich äußern, aber keiner von ihnen bekam ein Wort über die Lippen. Sie saßen schweigend eine Stunde da, und dann stellte der Junge sich vor Shan, nahm langsam dessen Hand und legte sie sich auf das eigene Herz.
Als der Junge ihn wieder losließ, griff Shan unter sein Hemd und zog sein gau hervor. »Ich habe im Sandberg einen der Alten getroffen«, sagte er und öffnete das Medaillon. »Bevor er in die Wüste zurückgekehrt ist, hat er mir dies hier gegeben.« Shan nahm die Feder heraus, legte sie sich vorsichtig auf die gewölbte Handfläche und sah sie an. »Ich habe ihm dafür eine neue anvertraut.« Er hob den Kopf und bemerkte, daß der Blick des Jungen ehrfürchtig auf die Feder gerichtet war. »Ich möchte, daß du sie nimmst«, sagte Shan und streckte die Hand aus.
Der Junge nahm die Feder nicht unmittelbar entgegen, sondern brachte sein eigenes gau zum Vorschein und öffnete den filigran gearbeiteten Silberverschluß, unter dem sich eine ebenso kostbare Jadearbeit befand. Er hob den Deckel des Jadekorbs an, und Shan ließ die Feder hineinfallen.
Tief bewegt musterte der Yakde das Geschenk. »Micah hat Eulen sehr gemocht«, sagte er leise. »Wenn wir zusammen waren, ist er oft aufgeblieben, um ihnen zu lauschen. Er hatte bei seinem Schattenclan gelernt, wie man sie herbeiruft. Eines Nachts wurde er ganz ruhig und sagte, er habe eine alte Eule gehört, die nun wiederum ihn herbeirufen würde, und daß er das Gefühl hätte, er müßte sich an einen ganz bestimmten Ort begeben« Der Junge schüttelte langsam den Kopf, hob dann vorsichtig das Medaillon dicht vor die Augen und betrachtete die Feder. »Sie wird einer der Schätze werden.«
Erst nach einem Moment begriff Shan, was Khitai meinte. Die Feder würde zum dauerhaften Besitz des Yakde werden, einer jener Schätze, anhand derer man die zukünftigen Inkarnationen des Lama erkennen könnte.
Am Nachmittag kehrten die Maos mit zwei Lastwagen zurück und unterhielten sich abermals leise mit Jowa. Sie halfen Shan und den Tibetern in einen der Wagen und führten Sophie auf die Ladefläche des anderen. Im letzten Moment sprang Shan wieder hinaus und stieg bei dem eluosi ein. Sie sahen einander wortlos an und streichelten Sophie, während der Lastwagen sich langsam in Bewegung setzte.
»Wo werden Sie Sophie zurücklassen, wenn Sie den Ozean überqueren?« fragte Shan.
Marcos Gesicht wirkte noch immer traurig, aber er schien in gewisser Weise Frieden gefunden zu haben. »Sophie zurücklassen?« knurrte der eluosi . »Sophie und ich gehören zusammen. Sie kommt natürlich mit.«
»Nach Alaska? Es gibt in Alaska keine Kamele.«
»Demnächst schon«, verkündete Marco
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