Das Auge von Tibet
Dünen nach unten und füllten den Hohlraum mit Tonnen von Sand.
Und dann herrschte plötzlich eine absolute Stille.
Deacon stand neben ihm. Shan hatte es nicht einmal geschafft, sich vom Boden zu erheben. Xu blieb an der Straße, starrte ohne Fernglas in die Senke und verschwand dann langsam außer Sicht. Sie wich rückwärts zurück, ohne den Blick von der leeren Mulde abzuwenden. Kurz darauf hörte Shan den Motor ihres Wagens anspringen. Die Anklägerin fuhr weg.
Schweigend und schockiert näherten sie sich der flachen Einbuchtung, die auf die Position der ehemaligen Zisterne hindeutete.
»Wir müssen graben!« rief Abigail Deacon mehrmals, lief voran und fing an, mit bloßen Händen im Sand zu wühlen.
»Es sind mindestens zwölf Meter, Warp«, sagte ihr Mann leise, als er und Shan sie erreichten. »Unzählige Tonnen Sand. Es hätte keinen Sinn.«
Sie verharrten wie gelähmt, während die Amerikanerin knien blieb und hilflos mit den Fäusten auf den Sand trommelte. Die Wüste hatte neue Opfer gefordert. Die karez waren letztlich doch noch zum Grab geworden. Ko, der nur Geld wollte. Rongqi, den es nach Einfluß dürstete. Bao, der sich an der Gewalt berauschte. Und ein Tibeter, der im Leben nur wenig erreicht hatte, aber im Tod unerschütterlich geblieben war.
Ein Pferd wieherte. Sie sahen, daß die Reiter inzwischen mit Gendun und Lokesh neben den Tieren standen. Die Neuankömmlinge kamen nicht näher, sondern warteten in etwa zweihundert Metern Entfernung ab.
»Micah!« schrie die Amerikanerin, sprang auf und lief den Gestalten entgegen. Deacon wollte ihr folgen, hielt dann aber inne und schaute sich fragend um, weil Shan seinen Namen rief. Beschämt über die eigene Mutlosigkeit, überreichte Shan dem Amerikaner das gau , das Malik ihm gegeben hatte, das gau aus der Nähe des Grabes beim Lamafeld. Deacons Miene erstarrte, und sein ausgestreckter Arm sank wieder herab, als hätte er sämtliche Kraft verloren. Shan drückte ihm das Medaillon in die Hand und trat beiseite. Er erinnerte sich an den Stich in seinem Herzen, als er es zum ersten und einzigen Mal geöffnet hatte, am Tag nach dem nadam. Denn im Innern befanden sich weder der Jadekorb noch ein geheimes Gebet, sondern lediglich die vertrockneten Überreste einer kleinen braunen Grille.
Die Amerikanerin stolperte weiter durch den lockeren Sand voran und rief sogar dann noch den Namen ihres Sohnes, wenn sie hinfiel. Deacons Blick richtete sich kurz auf Shan und dann auf die kleine schlanke Gestalt neben den beiden Hirten. Seine Miene verfinsterte sich, als senke ein Schleier sich auf sie herab. Dann stieß er ein Keuchen aus, als befände er sich wieder in den stickigen karez, und ging los. Er rief seine Frau, zuerst ganz leise, dann immer lauter, bis er sie schließlich einholte, als sie ein weiteres Mal strauchelte und auf die Knie fiel.
Es bestand kein Bedarf für Erklärungen, erkannte Shan, denn Jacob Deacon hatte alles begriffen. Dem Amerikaner war ein kurzer Einblick in die Alpträume zuteil geworden, die Shan seit dem nadam heimsuchten. Zwei übermütige Jungen hatten ihren Pflegeeltern, ihren Beschützern aus den Schattenclans einen Streich gespielt, denn einer von ihnen wollte auf die tieferen Weiden ziehen, um bei den Pferden sein zu können, während der andere das Hochgebirge erreichen wollte, das Land des Lamafelds. Schon im Lager des Roten Steins hatte Khitai einen solchen harmlosen Platztausch mit Suwan vollzogen. Nur für ein paar Tage, hatten Khitai und Micah bestimmt vereinbart;
schließlich würden sie sich ja ohnehin alle bei Vollmond am Steinsee treffen. Malik war überzeugt gewesen, Khitai sei am Lamafeld ermordet worden, doch Malik hatte bloß einen übel zugerichteten Jungen mit dunklem Haar gesehen, der bereits in ein Leichentuch gewickelt war, Khitais Habseligkeiten besaß und sich zudem am erwarteten Ort befand.
»Micah!« rief die Amerikanerin erneut, während ihr Mann sie auf die Beine zog. »Unser Junge!« fügte sie hinzu, als würde Deacon es nicht verstehen. Aber er nahm sie in die Arme, hielt sie fest von hinten umschlossen und ließ sie nicht gehen, derweil sie weiterhin zu den Reitern schaute. Shan und Marco gingen an den beiden vorbei und wurden immer langsamer. Die zwei Hirten, die dort die Zügel ihrer Pferde in den Händen hielten, starrten den Amerikanern verstört und erschrocken entgegen.
Als Shan die Männer erreichte, saß Lokesh neben einem schmalen tibetischen Jungen am Boden, betete gemeinsam mit
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