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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wandte sich dann an die Besucher. »Sie hat gesagt, es sei gut, endlich einen Mullah bei uns zu haben. Ich sagte, ihr seid zwar keine Mullahs, sondern Buddhisten, aber gleichwohl heilige Männer.«
    Die Frau nickte energisch und tätschelte dann sanft die Erde, als würde sie ein schlafendes Kind streicheln.
    »Zu wem hat dieser Junge gehört?« fragte Shan. »Ich weiß, er war ein Waisenkind, aber wo ist der Rest seines Clans geblieben?«
    »Vermutlich gab es niemanden mehr. Wir wissen nichts über den Ort und Zeitpunkt seiner Geburt. Er selbst hat es auch nicht gewußt. Er gehörte zur zheli «, sagte Akzu, als würde dadurch bereits viel erklärt.
    Nachdenklich musterte Shan die verhärmte Frau und stand dann auf. »Das heißt, er hat hier gelebt, aber Lau war seine Lehrerin.«
    Akzu nickte. »Er war nur kurze Zeit hier. Manche Kinder muß man ständig im Auge behalten. Er jedoch hat überhaupt keinen Ärger verursacht. Wir haben öfter ein Kind aus der zheli für einen oder zwei Monate bei uns. Lau wollte nicht, daß sie die ganze Zeit in der Stadt bleiben. In der warmen Jahreszeit hat sie Aufenthalte bei den Clans organisiert.«
    »Und Khitai war neu?«
    »Für uns schon. Er war noch nie zuvor beim Roten Stein gewesen. Aber bei früheren Gelegenheiten, wenn wir einen der Waisen zu Laus Treffpunkt brachten, hatten wir ihn hin und wieder gesehen. Er lächelte immer. Er war fröhlicher als die meisten anderen, denn er hatte wenigstens einen Begleiter, diesen Mann namens Bajys.« Bei diesen Worten zuckte er zusammen, als würde ihm im gleichen Moment die traurige Ironie seiner Worte bewußt werden.
    »Bajys war demnach auch eine Waise?« fragte Shan.
    »Ja, aber er ist schon älter, deshalb ist er nicht mehr zur Schule gegangen. Die beiden sagten, sie hätten vor einigen Jahren festgestellt, daß sie aus demselben im Norden beheimateten Clan stammten, und sich daraufhin gegenseitig versprochen, aufeinander aufzupassen. Bajys hat Khitai so manches beigebracht.«
    »Was genau ist mit dem besagten Clan geschehen?« fragte Shan und mußte an Akzus Worte zu Beginn des Ritts denken. Vielleicht brachte der Dämon etwas zu Ende, das bereits Jahre vorher begonnen hatte.
    Akzu zuckte die Achseln uid trat einige Schritte zurück, als wolle er ins Lager aufbrechen. Dann blieb er in der Mitte der Einfriedung stehen und starrte über die Hügel weit nach Süden, in Richtung der tibetischen Hochebene. Shan folgte ihm. »Seit es angefangen hat, sind alle Clans beunruhigt«, sagte der alte Kasache.
    »Sie meinen die Morde.«
    Akzu wandte den Blick nicht von den Hügeln ab und verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln, als hätte Shan einen Witz gemacht. »Natürlich die Morde. Alle Morde. All die Verhaftungen. Seit ich ein Junge war und die Grünhemden hergekommen sind.«
    Akzu sprach von der Volksbefreiungsarmee und der fünfzig Jahre zurückliegenden Invasion dieser Region, die zur westlichsten Provinz der Volksrepublik China geworden war. Manche von Shans früheren Zellengenossen, zumeist inhaftierte Krieger, hatten diese Geschichte dermaßen oft erzählt, daß im Laufe der Jahre ein Lied daraus entstanden war, dessen Melodie sie bisweilen im Beisein der Wärter pfiffen. Die Volksbefreiungsarmee hatte zunächst Xinjiang eingenommen und sich an den Moslems erprobt; dann war Tibet an die Reihe gekommen. Die Unterjochung Xinjiangs hatte ein Jahr gedauert, die Versklavung Tibets beinahe ein Jahrzehnt.
    »Viele der alten Clans sind vollständig verschwunden«, sagte Akzu. »Sie wurden für immer ausgelöscht. Andere hat man durch Linien auf den chinesischen Landkarten in Teile aufgespalten.« Er sah nun wieder Shan an. »Früher sind die Kaiser aus China häufig nach Xinjiang gekommen. Sie wollten unsere Pferde kaufen. Sie wollten ihre Grenzen durch vorgeschobene Garnisonen schützen. Ihre Armeen blieben ein paar Jahre und kehrten dann nach Hause zurück. Die Kasachen und Uiguren, die hier lebten, waren davon nicht betroffen. Aber Kaiser Mao war anders.« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind immer Nomaden gewesen. Die von Mao entsandten Grünhemden zeichneten Kästchen auf ihren Karten ein und gaben uns Papiere, die uns den Aufenthalt nur in diesen Kästchen gestatteten. Zuerst haben wir darüber gelacht. Die Wanderungen der Herden und das Leben unseres Volkes waren den Chinesen ganz offensichtlich völlig fremd. Aber als wir die Grenzen ihrer Kästchen überschritten, warfen sie uns ins Gefängnis. Oder taten uns noch Schlimmeres

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