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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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an.«
    »Sie haben gesagt, der Junge sei aus irgendeinem Grund deportiert worden.«
    »Deportiert«, stieß Akzu verächtlich hervor. »Du klingst wie Peking.« Er seufzte und schaute zu Jakli, als würde er sich ins Gedächtnis rufen, daß er mit Shan irgendwie auskommen mußte. »Heutzutage nimmt man es mit den Einschränkungen nicht mehr ganz so genau«, räumte er ein. »Inzwischen kommen manchmal sogar Besucher zu uns. Die Leute suchen nach ihren Familien, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr gesehen haben, weil sie auf den chinesischen Karten in verschiedene Kästchen eingewiesen wurden. Lau war anfangs auch so, aber dann beschloß sie, im Bezirk Yutian zu bleiben und all den anderen zu helfen, die auf ihrer Suche durch dieses Gebiet kamen.«
    »Sind auch Khitai und Bajys auf der Suche nach ihren Familien hierhergekommen?«
    »Mittlerweile wollen die meisten Waisen einfach nur einen Ort finden, an dem sie sich eingliedern und ein neues Leben beginnen können. Tante Lau schlug vor, wir sollten uns vielleicht mal etwas näher mit Khitai befassen. Sie sagte, er sei eher für einen der kleineren Clans geeignet, die in einiger Entfernung von der Stadt auf den höheren Weiden bleiben. Wir waren sofort damit einverstanden, ihn und Bajys bei uns aufzunehmen. Häufig finden Leute wie diese beiden nämlich niemals wieder eine neue Heimat. Es hat sich so viel verändert. Den Kindern wird nicht mehr gestattet, die alten Bräuche zu lernen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Eine meiner Kusinen hat in einen der nördlichen Clans eingeheiratet. Letztes Jahr habe ich einen Brief von ihr bekommen. Darin stand, bei ihnen hätte sich vieles zum Besseren gewendet. Es kämen jetzt häufig Chinesen in ihr Lager und würden für einen Schlafplatz in den Jurten und Mahlzeiten vom offenen Holzfeuer bezahlen. Touristen. Ich schrieb zurück, das sei für mich durchaus keine Verbesserung. Wenn man sich darüber freut, daß sie herkommen und uns wie ihre Haustiere oder wie irgendeine Zirkusattraktion behandeln, dann hat man meines Erachtens seine Wurzeln verloren und vergessen, wie das Leben als Kasache sich eigentlich anfühlen sollte.« Akzu zuckte die Achseln. »Letzten Endes habe ich den Brief dann doch nicht abgeschickt. Die Öffentliche Sicherheit kontrolliert noch immer manchmal die Post. Aber wenn Reisende wie Khitai kommen, müssen wir ihnen Unterschlupf bieten. Unser Clan hat während der Jahre der Entbehrungen viele Angehörige verloren. Einige davon sind womöglich noch am Leben, vielleicht im Norden oder gar in Kasachstan«, sagte er und bezog sich damit auf den unabhängigen kasachischen Staat westlich von China. »Manche der versprengten Clanmitglieder lassen sich in einer Stadt nieder und beginnen ein neues Leben, wie Lau. Andere jedoch wandern ziellos durch das Land. Vielleicht sind auch einige unserer Verwandten irgendwo unterwegs. Ich hoffe nur, sie finden auf ihrer Suche freundliche Aufnahme.«
    Shan sah zu Jakli. Ihr Vater sei verschwunden, hatte sie gesagt. Akzus Bruder. Der alte Kasache seufzte laut. »Wir werden noch früh genug am eigenen Leib erfahren, wie es ist, eine Waise zu sein.«
    Shan wollte fragen, was genau er damit meinte, als Jakli sich zu ihnen gesellte. »Onkel, wie lange war dieser Junge hier?«
    »Knapp drei Wochen. Bis kurz vor dem letzten Vollmond. Khitai war ruhig. Ein guter Junge. Mitunter ein richtiger Witzbold. Einmal ist er in der Nähe des Lagers auf einen Baum geklettert und hat jeden, der vorbeikam, mit Nüssen beworfen und dazu Geräusche wie ein Eichhörnchen gemacht. Und er hat immer eine rote Kappe, seine dopa, getragen, ganz wie ein guter Moslem. Wenn er nicht mit Malik zusammen war, hat er mit Bajys auf den Hügeln gearbeitet. Wir waren froh, die beiden während der anstrengenden Herbstzeit bei uns zu haben, denn schließlich mußte ja ein Heuvorrat für den Winter angelegt werden.« Bei diesem letzten Satz warf er Jakli einen bitteren Blick zu, als verberge sich dahinter irgendein grausamer Scherz.
    »Wie ist der Junge gestorben?« fragte Shan ohne Umschweife.
    Akzu seufzte erneut. »An jenem Tag kam eine der alten Familien zu Besuch, kein ganzer Clan, lediglich die letzten Überlebenden. Bei uns heißen sie Schattenclans. Sie trauen niemandem und sind stets argwöhnisch wie schreckhaftes Wild. Nach Möglichkeit halten sie sich von den Straßen fern und haben gerade genug Schafe in ihrem Besitz, um sich selbst zu ernähren. Für gewöhnlich bleiben sie auf den

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