Das Auge von Tibet
verbringen die Familien zumeist in der Nähe der Stadt. Aber es hieß, die Brigade wolle alle Clans auseinanderreißen. Damit würden vermutlich auch die Kinder der zheli getrennt und in verschiedene chinesische Städte gebracht werden. Khitai hatte große Angst vor den Chinesen. Ich glaube, als er noch klein war, haben sie seinen Leuten schlimme Dinge angetan. Khitai sprach davon, er wolle fliehen, zur Not bis auf den letzten Berggrat, wie wir es nennen. Damit ist der höchste Teil des Kunlun gemeint, das Gletschergebiet.«
Schweigend musterten sie alle das Feuer.
»Hast du das Stück Holz in sein Grab gesteckt?« fragte Shan schließlich.
Die Worte schienen Malik zu erschrecken. Er drückte Shans Hand fester, als wolle er ihn daran erinnern, daß er schließlich kein alter Mann war, sondern lediglich ein Junge, der immer wieder andere Kinder beerdigen mußte. »Ich habe es am nächsten Tag gefunden«, sagte Malik. »Meine Tante hatte die anderen Stücke eingesammelt und zu seinen Sachen gelegt. Zuerst wollte ich es ins Zelt mitnehmen, aber dann habe ich mich nicht getraut, es anzufassen, also habe ich es mit einem Stock in den Grabhügel geschoben.«
»Wieso?«
»Vielleicht hatte das den Dämon herbeigerufen. Der Mörder hat die geheime Inschrift zerbrochen. Vielleicht ist er durch diese Worte überhaupt erst so in Wut geraten.«
»Meinst du Bajys?«
Shan sah Malik im Dunkeln nicken. »Das Wesen, zu dem Bajys wurde, hat mein Onkel gesagt.« Der Junge verstummte und starrte lange in die ersterbenden Flammen. »Ich weiß, daß es Schutzgeister gibt, die sich zum Beispiel um das Wohlergehen der Tiere kümmern. Immerhin habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie verlorengegangene Jungtiere zu ihren Müttern zurückgefunden haben, obwohl die auf der anderen Seite des Berges waren. Und wenn es Schutzgeister gibt, dann muß auch das Gegenteil davon existieren«, sagte der Junge in wissendem Tonfall, als habe er schon oft über diese Möglichkeit nachgedacht.
Eine zerstörerische Gottheit, dachte Shan. Ein Dämon.
»Und es ist noch immer da draußen«, fügte Malik erschaudernd hinzu. »Das Wesen, das Kinder tötet.«
»Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen«, warf Lokesh plötzlich mit schwacher Stimme ein. »Wir müssen mit Tante Lau sprechen.«
Shan sorgte sich um seinen Freund. Seit Khitais Name zum erstenmal gefallen war, schien irgend etwas in Lokeshs Innerem immer mehr zu zerbrechen. »Weißt du, ob es hier irgendwo Lamas gibt?« fragte Shan den Jungen. »Gab es vielleicht einen Priester, der mit Lau befreundet gewesen ist und inzwischen womöglich vermißt wird?«
»Heilige Männer?« fragte Malik zurück. »Nein. Diese Anklägerin Xu in Yutian würde das niemals zulassen. Manchmal hält sie öffentliche Reden. Sie haßt die Tibeter. Sie sagt, das seien alles nur Verräter.« Malik hielt inne und überlegte kurz. »Allerdings würde diese Frau sie nicht sofort umbringen«, stellte er mit einer Gewißheit fest, die Shan frösteln ließ. »Sie würde sie jedoch an einen Ort schaffen lassen, an dem
Kapitel 4
Sie ritten einen der zerklüfteten Nordhänge des Kunlun-Gebirges hinunter, während die aufgehende Sonne die Gipfel in Rosa und Gold erstrahlen ließ. Das Licht schien Lokesh neue Kraft einzuflößen, denn er stimmte eines seiner Wanderlieder an und pries darin die Schutzgötter der Berge. Akzu und Jowa ritten außer Hörweite voraus und unterhielten sich dabei auf die gleiche drängende Weise wie am Vortag mit Fat Mao in der Jurte. Alle paar Minuten stellte Jowa sich in den Steigbügeln auf und blickte angestrengt nach vorn, als würde er nach jemandem Ausschau halten. Vielleicht nach Fat Mao. Als sie erwachten, hatte der Uigure das Lager bereits verlassen.
Plötzlich hob Akzu warnend die Hand. Sie hielten an und hörten, daß über ihnen, auf einem Pfad entlang der Kammlinie, Hufgetrappel ertönte. Ein kleiner Reiter und sein graues Pferd kamen in Sicht. Akzu fluchte und stieß einen lauten Ruf aus, woraufhin der Reiter fünfzehn Meter über ihnen sein Pferd aus vollem Galopp abrupt zum Stehen brachte. Es war Malik.
»Die zheli muß gewarnt werden!« rief der Junge seinem Onkel zu. »Khitai ist noch am Leben. Das Wesen, das nun Bajys ist, wird hinter ihm und vielleicht auch hinter den anderen her sein!«
Akzu warf Jakli einen beunruhigten Blick zu. »Wir brauchen dich, Junge«, erwiderte er. »Du weißt doch gar nicht, wo du suchen sollst. Dies ist nicht der rechte Zeitpunkt.« Er schien
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