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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sagen? All die Lämmer und kleinen Ziegen wären gemeinsam mit mir in den Bergen aufgewachsen. Und jetzt darf keiner von uns hierbleiben. Ich muß ihnen doch wenigstens ein bißchen Hoffnung einflößen.« Er musterte Shan mit leerer Miene und schüttelte den Kopf. »Am nächsten Morgen habe ich meine Tante nach Khitai gefragt, und sie sagte, er sei wahrscheinlich oben an seinem Platz zwischen den Felsen.«
    »Wie genau hast du ihn vorgefunden?«
    Malik blickte zum Mond empor. »Es war noch nicht ganz hell. Er saß im Schatten an den Felsen gelehnt, ganz in der Nähe seines jetzigen Grabes. Er schien überrascht zu sein.«
    »Überrascht?«
    »Ich konnte den Anblick nicht lange ertragen. Aber im ersten Moment dachte ich, er würde überrascht an mir vorbeisehen, als hätte er hinter mir jemanden entdeckt. Ich sagte, du siehst aber komisch aus. Und du hast drei Augen.« Malik schaute in die Glut. »Aber seine Augen regten sich nicht. Ich rief nach Khitai und rannte weg.«
    Shan stutzte und ließ die Worte des Jungen noch einmal Revue passieren. Da hob der Hund auf einmal ruckartig den Kopf. Shan folgte dem Blick des Tiers und bemerkte, daß Lokesh dort im Dunkeln stand und dabei so zerbrechlich wie eine kleine Holzpuppe wirkte. Als der Tibeter sich neben den Hund setzte, legte der ihm sofort den Kopf auf das Bein.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Shan zu dem Jungen. »Warum hast du nach Khitai gerufen?«
    Malik runzelte die Stirn und schaute wieder zum Mond.
    Lokesh meldete sich mit zitternder Stimme zu Wort. »Weil dieser Junge dort in dem Grab nicht Khitai ist.«
    Malik seufzte, als sei er zutiefst erleichtert, und nickte.
    Shans Blick wanderte von dem Jungen zu dem alten Mann und wieder zurück. Einen Moment lang kam er sich fast so vor, als würde er nicht etwa eine Morduntersuchung durchführen, sondern vielmehr einer Unterweisung beiwohnen; als säße er zwischen zwei Lamas, die ihn aufforderten, unmögliche Widersprüche zu erklären.
    »Ich habe Akzu gesagt, daß es sich nicht um Khitai handelt«, platzte es aus Malik heraus. »Diese Sachen in dem Zelt, die dombra und die Jadeperle, die haben gar nicht Khitai gehört. Es war der andere Junge aus der zheli . Er hieß Suwan und war an jenem Tag zu Besuch gekommen. Nur die rote Kappe auf seinem Kopf hat ursprünglich Khitai gehört. Akzu war sich nicht sicher. Das Gesicht des Jungen war grün und blau und ziemlich geschwollen. Akzu kannte Khitai nicht besonders gut und hat in den letzten Wochen kaum Zeit hier im Lager verbracht. Er sagte, Khitai sei der Name des Jungen, den Lau hergeschickt habe, und um wen es sich auch handeln möge, Bajys habe ihn ermordet. Falls Khitai mit dem anderen Clan gegangen sei, um Bajys zu entfliehen, möge Gott ihn beschützen. Er sagte, ich dürfe niemandem davon erzählen, um den Kummer meiner Tanten nicht noch zu vergrößern. Immerhin sei eines der Waisenkinder ums Leben gekommen und ein guter kasachischer Junge beerdigt worden, und das sei schließlich schlimm genug. Alles andere müsse ein Geheimnis bleiben.«
    Jetzt hingegen hatte Lokesh die Wahrheit erfaßt und als erster zur Sprache gebracht, so daß Malik sich dazu äußern konnte, ohne sein Wort zu brechen, erkannte Shan.
    Der Kopf des Hundes ruckte abermals hoch, und dann fing das Tier an, mit dem Schwanz zu wedeln. Shan drehte sich um und sah, daß Jakli bei den angeleinten Pferden stand und das Gespräch mit anhörte.
    »Kennt Ihr Khitai?« fragte Malik den alten Tibeter.
    Lokesh schüttelte langsam den Kopf.
    Malik sah ihn aus großen Augen an. Shan wußte aus eigener Erfahrung, was der Junge gegenwärtig empfand, eine Mischung aus Verwirrung und Ehrfurcht angesichts der seltsamen Magie, die in dem Tibeter zu wirken schien. Shan hatte sich geirrt. Nicht Alta war hier im Lager zu Besuch gewesen, sondern eine andere Familie mit einem Jungen namens Suwan, der seine Habseligkeiten ins Zelt des Roten Steins mitgenommen hatte, als würde er dort einziehen. Der Junge hatte geklagt, seine Pflegeeltern könnten sich nicht in seiner Muttersprache mit ihm verständigen, also hatte Khitai den Platz mit ihm getauscht, war an der zheli gewissermaßen auf die Position des anderen gerutscht.
    »Konnte Khitai tibetisch sprechen?« fragte Shan.
    »Nein. Er war Kasache«, sagte Malik verunsichert. »Aber er wollte weiter nach oben.«
    »Weiter nach oben?«
    »Tiefer ins Gebirge, als der Rote Stein für gewöhnlich geht. Die Zeit des Herdentriebs ist beinahe vorbei, und den Winter

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