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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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immer wütender zu werden. »Ich bin das Oberhaupt des Clans des Roten Steins. Ich verbiete es dir.«
    Der junge Kasache ließ den Blick einen Moment lang über die Berge schweifen. Als er sich wieder zu seinem Onkel umwandte, sah Shan den Schmerz auf seinem Gesicht. »Und ich antworte darauf, daß ich es leid bin, Gräber auszuheben«, sagte er und gab seinem Pferd einen kräftigen Fersenstoß in die Seite.
    Shan beobachtete Akzu, der dem Jungen hinterherschaute. Der Zorn auf seinem Gesicht verwandelte sich erst in Besorgnis, dann in Stolz. »Geh mit Gott, mein Junge«, sagte der alte Mann leise, murmelte dann seinem Pferd etwas zu und folgte in schnellem Trab dem weiteren Verlauf des Weges.
    Eine halbe Stunde später erreichten sie einen Felsgrat, der sich vor ihnen in einer Reihe steiler Serpentinen nach unten wand. Jakli wies auf ein graues Band am nördlichen Horizont. »Die Fernstraße«, sagte sie. »Sie führt bis nach Kashi, sechshundertfünfzig Kilometer westlich von hier.«
    Shan beugte sich im Sattel vor und deutete nach Westen auf eine mächtige Felsformation in etwa vierhundert Metern Entfernung, die sich wie ein riesiger Wächter nahezu hundert Meter über den Kamm erhob. Auf ihrer Spitze steckte in einem Steinhaufen ein langer Pfosten, an dem eine knapp zwei mal zwei Meter messende Flagge aus zerfranstem rotem Stoff im Wind flatterte. Es war eine große lungta, eine tibetische Gebetsfahne. Lokesh, der vor ihm ritt, hörte schlagartig auf zu singen, schirmte seine Augen vor der Sonne ab und starrte den Pfahl an. Als er die Fahne erkannte, winkte er erst Shan zu und schwenkte den Arm dann in Richtung des Signals.
    Shan musterte den hoch aufragenden Felsen. Es schien unmöglich zu sein, die steilen Wände zu erklimmen. Und dennoch hatte jemand es geschafft, als wolle er die Chinesen kühn herausfordern, ebenfalls ihr Leben zu riskieren, um die Flagge wieder zu entfernen. Kein beliebiger Jemand. Ein Buddhist. Das hier war ein Grenzgebiet mit vielen verschiedenen Völkern. Doch Tibeter, hatte Malik ihn gewarnt, wurden von der Anklägerin häufig einer Sonderbehandlung unterzogen. In Grenzregionen vermischte sich das Blut der Völker. Wie bei Jakli, die halb Kasachin, halb Tibeterin war. Vermischtes Blut führte bisweilen zu gemischten Allianzen.
    So wie vermutlich im Fall von Lau - jener geheimnisvollen Frau mit dem Han-Namen, deren Tod die Lamas so sehr beunruhigt hatte und deren Grab sie nun besuchen würden.
    »Lha gyal lo!« brüllte Lokesh aus vollem Hals, so daß Jowa mit wütendem Blick im Sattel herumfuhr. Der alte Tibeter ignorierte den purba . »Lha gyal lo!« wiederholte er. »Mögen die Götter siegreich sein!«
    »Dein Freund«, sagte Jakli mit Blick auf Lokesh, der erneut der Fahne zuwinkte. »Ist er verrückt? Verzeihung - ich meine, macht sich bei ihm vielleicht das hohe Alter bemerkbar?«
    »Ob er senil ist?« Lächelnd betrachtete Shan seinen alten Freund. »Falls das bedeuten soll, er sei unaufmerksam, verwirrt und unfähig, Zusammenhänge zu erkennen, dann ist er das genaue Gegenteil von senil. Er hat zuviel erlebt. Er wollte bloß ein Mönch sein, ein Mönchsheiler. Aber weil er alle seine Lektionen mit Bravour bewältigte, beorderte sein Kloster ihn in den Dienst der Regierung. Dann kam Peking und sagte, er dürfe kein Mönch mehr sein. Nach ein paar Monaten hat er eine frühere Nonne geheiratet, die ebenfalls aus ihrem Amt vertrieben worden war. Zwei Wochen später wurde er als ehemaliger Regierungsbeamter ins Gefängnis geworfen.«
    »Für fünfunddreißig Jahre«, erinnerte Jakli sich.
    Shan nickte. »Seine Frau kam an jedem Besuchstag. Meistens durfte sie sich ihm nicht nähern, so daß die beiden nicht miteinander sprechen konnten. Also haben sie sich zugewinkt, stundenlang einfach nur gewinkt. Und zwei Tage nach seiner Heimkehr ist seine Frau gestorben.«
    Jakli waren Tränen in die Augen gestiegen. Sie sah Lokesh an und wandte sich ab, drehte ihr Gesicht in den Wind und trieb ihr Pferd voran.
    Sie ritten eine weitere Stunde fortwährend bergab, bis sie eine Stelle erreichten, an der sich mehrere Trampelpfade kreuzten. Vor ihnen, am oberen Ende einer Schotterstraße, ragte ein schmales Gebäude auf, dessen Grundriß einem langgestreckten Dreieck glich. Man hatte es aus groben Steinen errichtet, an denen jedoch schon seit langem der Zahn der Zeit nagte, so daß eine der Wände bereits teilweise in sich zusammengefallen und das Wellblechdach an jener Stelle entsprechend eingesackt

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